Verzicht auf nukleare Forschungsförderung zum “Wohle des Volkes”?*

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Die Forschungsförderung ist die ursächliche Voraussetzung eines jeden Industriestaates, Innovationen erfolgreich für sich im globalen Wettbewerb umzusetzen und zu nutzen, die unseren Lebensstandard nicht nur ermöglicht, sondern auch weiterhin garantiert. Ihn zu erhalten sieht sich die Bundesregierung nach eigenem Bekunden verpflichtet. Wo stehen wir aber bei der Kernforschung?

 

Der öffentlichen Forschungsförderung der friedlichen Kernenergienutzung in Deutschland in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ist es zu verdanken, dass in nur wenigen Jahren ein international vergleichbarer Leistungsstandard auf nahezu allen Sektoren der Kerntechnik aufgebaut werden konnte. Eine zentrale Rolle nahmen die Kernforschungszentren in Jülich und Karlsruhe ein. Sie gehörten zu den größten nuklearen Forschungseinrichtungen in Europa. Ihre breit gefächerte Forschung umfasste mit Druck- und Siedewasserreaktoren, Schneller Brüter und Hochtemperaturreaktor einen beachtenswerten Umfang der seinerzeitigen Reaktortechnik. Ferner gehörten, um nur einige zu nennen, die nukleare Sicherheit, die Entsorgungs- und Endlagertechnik, Filter- und Rückhaltesysteme für radioaktive Emissionen, die Anreicherungstechnik, die Brennelementforschung, die Wiederaufarbeitung, Strahlenschutz sowie medizinische und biologische Strahlenforschung zu den Forschungsaufgaben der Zentren. Äußerst kompetente Lehrstühle für Kerntechnik, verteilt über Deutschland, befassten sich mit der kernphysikalischen Grundlagenforschung und mit Forschungen auf Spezialgebieten der Kerntechnik. Die Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung lieferte wesentliche Beiträge zum Strahlenschutz und zur Endlagerung radioaktiver Abfälle.

Zeitgleich mit der Forschung übernahmen Firmen, anfangs mit US-amerikanischer Unterstützung, die Entwicklung und den Bau von Kernkraftwerken und die für den Reaktorbetrieb notwendigen Dienstleistungen.  Das sind Firmen, die von der Urangewinnung bis zur Abfallbeseitigung an allen Stellen des gesamten Zyklus mit Kernbrennstoffen tätig sind.  Herausragend ist der international anerkannte hohe Sicherheitsstandard der von Siemens/KWU entwickelten und gebauten Siede- und Druckwasserreaktoren. Ihre zuletzt in Deutschland gebauten sogenannten „Konvoi-Anlagen“ rangieren seit Jahren unter den ersten zehn Kernkraftwerken mit der höchsten Verfügbarkeit.

Weltweit (noch) führend und konkurrenzlos ist das in Deutschland entwickelte und von der britisch-deutsch-niederländischen Urenco- Firmengruppe in Gronau /D, Almelo/NL und Capenhurst/GB betriebene Gaszentrifugenverfahren zur Anreicherung des Urans-235 im Kernbrennstoff. In natürlichem Uran ist Uran-235 nur zu 0,71 Prozent enthalten. Für den Betrieb in Leichtwasserreaktoren muss das Uran-235 im Kernbrennstoff üblicherweise auf 3,5 Prozent angereichert werden.

Eine der Grundvoraussetzungen für den störungsfreien Betrieb der Kernkraftwerke ist der hohe Qualitätsstandard der Brennelemente. In Deutschland liegen hierzu Jahrzehnte lange Forschungs- und Entwicklungs- sowie weit über 50 Jahre Betriebserfahrungen vor. Der erreichte Qualitätsstandard lässt sich an der Standfestigkeit und Fehlerfreiheit dieser millionenfach bewährten Komponenten messen. Für Druck- und Siedewasserreaktor-Brennelemente beträgt die Defektrate weniger als 0,003 Prozent der Brennstäbe. Eine Fertigungsstätte für Uranoxid-Brennelemente befindet sich seit 1979 in Lingen.

Mit der Entwicklung und dem Bau einer Mischoxid-Brennelementfabrik wurde in Deutschland ein technischer Fertigungsstand erreicht, der den von Frankreich und Großbritannien übertraf. Wegen der Verarbeitung von Plutoniumoxid waren zum Schutz des Personals weite Teile der Fertigung automatisiert und fernhantiert ausgeführt. Die Anlage war mit ausschließlich öffentlichen Mitteln gebaut worden. Landespolitische und rechtliche Umstände führten dazu, dass die betriebsbereite Anlage nie in Betrieb ging. Inzwischen ist sie demontiert (geschreddert!). Das aus der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente aus deutschen Reaktoren in Frankreich und Großbritannien gewonnene Plutonium wird weiterhin ausschließlich in Frankreich zu Mischoxid-Brennelementen verarbeitet.

Ein ähnliches Schicksal ereilte den weitgehend mit öffentlichen Mitteln in Karlsruhe entwickelten und in Kalkar gebauten Schnellen Brüter. Auch er ging infolge fehlender politischer Unterstützung nicht in Betrieb. Der wegweisenden Hochtemperatur-Reaktortechnik erging es nicht besser. Trotz erfolgreicher Erprobung in Jülich wurde die Forschung eingestellt. Diese Reaktortechnik, die sich durch ein passives Kühlsystem auszeichnet (d.h., das Kühlsystem kommt ohne aktive Komponenten wie Pumpen und ohne operative Eingriffe aus), wird in Russland und China konsequent weiterentwickelt.  Ein weiterer Vorteil ist, dass die Kernreaktion mit steigender Brennelementtemperatur zum Erliegen kommt und somit keine Kernschmelze auftreten kann.  Dadurch ist diese Technologie zur Nutzung der Kernspaltung inhärent sicher.

Ausbau und Entwicklung der Reaktortechnik haben noch längst nicht ihr Zenit erreicht. Die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) rechnet nach einer Meldung vom August 2017 mit einer Verdopplung der gegenwärtigen weltweiten Nuklearleistung bis 2050. Die Entwicklung neuer Reaktoren wird von dem „Generation IV International Forum“ vorangetrieben. Bis 2040 sollen neue Reaktoren und Brennstoffkreisläufe entwickelt werden, die den Ressourcenverbrauch reduzieren, die Menge des radioaktiven Abfalls verkleinern und den Spaltmaterialmissbrauch für Kernwaffen erschweren. 14 Nationen gehören diesem Forum an: Australien, China, Frankreich, Japan, Kanada, Russland, die Schweiz (über das Paul Scherrer Institut, PSI), Südafrika, Südkorea, die USA und die EURATOM. Weiterhin beteiligt – aber nicht aktive Mitglieder – sind Argentinien, Brasilien und Großbritannien. Deutschland als eine der größten Industrienationen der Welt gehörte zu keiner Zeit diesem Forum an und war bestenfalls indirekt über EURATOM hieran beteiligt.

Fast unbemerkt – zumal in Deutschland – vollzieht sich die internationale Entwicklung kleiner Reaktoren mit einer Leistung bis zu etwa 300 MW. Ihr Kürzel: SMR (Small Modular Reactor). Ihr Vorteil ist mehrfach: Deutlich geringere Kosten und geringere Planungs-und Bauzeiten als die großen Leistungsreaktoren, die Option der Modulbauweise und – ganz entscheidend – die höhere Sicherheit. Die Abfuhr der in den Brennelementen entstehenden Wärme wird durch einen passiven Naturkühlkreislauf sicher beherrscht und bedarf folglich keiner aktiven Komponenten.  Die Entwicklungen haben bereits Genehmigungsreife erlangt. Ein US-Entwickler rechnet damit, dass bis 2035 rund tausend SMR weltweit in Betrieb sein werden.

Mit dem Ausstieg aus der Kernenergie wird auch die Entwicklung der Reaktortechnik in Deutschland nicht mehr gefördert. Die ursprüngliche Zweckbestimmung des Atomgesetzes, „die Erforschung, die Entwicklung und die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken zu fördern“, wurde in der Atomgesetznovelle von 2002 ersatzlos gestrichen. Waren die Entscheidung zum Kernenergieausstieg und der Verzicht auf die nukleare Forschungsförderung zum „Wohle des deutschen Volkes, zur Mehrung seines Nutzens und um Schaden von ihm abzuwenden“? Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung hält diese Entscheidung für falsch und verantwortungslos.

Deutschland wird international auf dem Gebiet der Kernenergie künftig eine Zuschauerrolle einnehmen. Längst bieten nur noch wenige Hochschulen und Universitäten Vorlesungen zu speziellen Teilen der Kerntechnik an. Es mussten Kompetenzzentren geschaffen werden, damit für die nächsten Jahre überhaupt noch ausreichend Fachpersonal zur Verfügung steht. Die Forschungszentren in Jülich und Karlsruhe befassen sich nur noch insoweit mit Kernenergie, wie es um die Stilllegung und Abriss ihrer nuklearen Forschungsstätten und der Zwischenlagerung radioaktiver Abfälle geht.

Armes Deutschland, wo bist du gelandet. Ein über Jahrzehnte erworbenes Wissen nur noch für das Archiv, wo es alsbald veraltet. Einst namhafte Nuklearfirmen wurden an ausländische Unternehmen verkauft oder wurden aufgelöst.

So viel steht fest: Mit dem Verzicht auf Kernenergie kann eine gesicherte Grundlast in Deutschland nur durch die Verstromung von Kohle und/oder Gas gewährleistet werden. Eine gesicherte Stromerzeugung allein auf der Basis von Wind und Sonne ist nicht möglich. Staaten, die eine Reduzierung ihrer mit fossilen Brennstoffen betriebenen Kraftwerke anstreben, setzen zum Ausgleich auf Kernkraftwerke.

Ebenso die Einstellung der Salzstockerkundung in Gorleben und der Erlass eines Gesetzes zur erneuten Aufsuche eines Standortes für die Endlagerung Wärme entwickelnder radioaktiver Abfälle hat in großen Teilen der Fachwelt Erstaunen und Unverständnis hervorgerufen. Die fast zwanzigjährige Salzstockerkundung hat, wie die Bundesregierung expressis verbis bekundete, keine Erkenntnisse geliefert, die gegen die Eignung des Salzstockes als Endlager sprechen. Sollte die künftige Entscheidung gar auf Granit oder Ton als Endlagermedium fallen, dann wären große Teile der bisher für Salzgestein gewonnenen Forschungs- und Erkundungsergebnisse wertlos. Finnland und Schweden machen es uns vor, wie man Endlager für hochaktive Abfälle plant und realisiert.

Sieht so für einen bedeutenden Industriestaat verantwortungsvolle, effektive Forschungs- und Wirtschaftspolitik aus? Werden nachfolgende Generationen es ihren „Vätern“ für die zu ihrem „Wohle“ getroffenen Entscheidungen danken? Erhebliche Zweifel sind angebracht.

 

*Dieser Artikel erschien im Oktober 2017 in der Kolumne “Die Energiefrage” des Deutschen Arbeitgeberverbandes <https://www.deutscherarbeitgeberverband.de/energiefrage/2017/2017_10_16_dav_aktuelles_energiefrage_38_nukleareforschungsfoerderung.html>