Der Kernenergieausstieg verschärft den Druck auf Stromversorgung und CO2-Reduktionsziel

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Im November startet in Glasgow die UN-Klimakonferenz 2021, international bekannt als COP 26 (United Nations Framework Convention on Climate Change, 26th Conference of the Parties). Laut britischer Presse werden 25.000 Teilnehmer (!) erwartet. Klimatourismus: ad absurdum. Hierbei wird wieder Bilanz gezogen über national erreichte CO2-Reduktionen seit der letzten Konferenz.

Deutschland, das sich gern als Musterschüler im Klimaschutz ausgibt, wird keinen Anlass haben, große Töne zu spucken:

Ein Entwurf des Regierungsberichts vom Sommer dieses Jahres prognostiziert [1], dass Deutschland auf der Grundlage der Politik vom August 2020 sein Klimaziel für 2030, die Emissionen um 65 Prozent gegenüber 1990 zu senken, um 16 Prozentpunkte weitgehend verfehlen und nur 49 Prozent erreichen wird. Es ist sehr schwer vorstellbar, dass die seither beschlossenen Maßnahmen diese Lücke vollständig schließen werden (siehe Grafik).

Entwicklung der Treibhausgas-Emissionen in Deutschland. Die deutliche Abnahme in 2020 ist überwiegend auf die Pandemie zurück zu führen, folglich bei erneutem Hochlauf der Industrie nicht dauerhaft sein wird. Quellen: UBA 2021 (2020 Daten sind vorläufig), Agora Energiewende 2021 [1]

Ende 2021 sollen drei der verbleibenden sechs Kernreaktoren, Gundremmingen-C, Grohnde und Brokdorf, endgültig abgeschaltet werden. Ein Jahr später werden die letzten drei, Neckarwestheim-2, Emsland und Isar-2, geschlossen. Dieser um zwei Jahrzehnte vorgezogene Verlust kohlenstoffarmer Stromerzeugung mit einer installierten Leistung von acht Gigawatt, die derzeit für zwölf Prozent der deutschen Jahresstromproduktion sorgt, wird unweigerlich zu mehr als 60 Millionen Tonnen zusätzlicher Kohlenstoffemissionen pro Jahr führen.

Auf die Verfehlung des Reduktionszieles und den bevorstehenden Kernenergieausstieg berufen sich führende internationale Experten (Anhang) in einem offenen Brief an alle Deutschen mit dem Titel „Liebes Deutschland, bitte lass die Kernkraftwerke am Netz“, über den WELT [2] am 14. 10. 2021 berichtete.

Deutschland würde nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen, die dem Land zur Verfügung stünden, heißt es in dem Brief. Und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der die Dekarbonisierung der Elektrizitätswirtschaft die Hauptstrategie ist, um effektiv zu einem Energiesystem mit null Nettoemissionen zu kommen. Denn es müssten mehr fossile Brennstoffe verbrannt werden, um die erforderliche Ersatzleistung zu erbringen. Dies würde die nationalen Emissionen im Vergleich zum Bezugsjahr 1990 um 5 Prozent erhöhen.

Der gleichzeitige Atom- und Kohleausstieg ohne jegliches Backup-System führt dieses Land derzeit in eine profunde Energie-, Wirtschafts- und Versorgungskrise. Auf Deutschland rollt eine “Stromlücke” zu, die auch durch weiteren Ausbau der Erneuerbaren nicht aufgefangen werden kann. Die gefährlichen Folgen immer höherer Energiepreise erleben wir ganz aktuell.

Es mehren sich die Stimmen, die eine Fortsetzung des Kernenergiebetriebes fordern. Eine von ihnen der frühere BASF-Chef Jürgen Hambrecht – er saß in der Ethikkommission:

„Die Zweifel am Atomausstieg wachsen“, überschreibt die FAZ am 19. 10. 2021 einen Artikel, in dem Hambrecht beklagt, dass es in Deutschland „damals keine Abwägung zwischen Kernenergie und der Erderwärmung“ gegeben habe. „Genau das brauchen wir aber, und es sieht so aus, als ob die Gefahren des Klimawandels viel höher sind als die Risiken der Atomkraft“. „Wenn wir aus guten Gründen für den Klimaschutz die Wirtschaft, den Verkehr und das Heizen auf Elektrizität umstellen und wenn wir zugleich aus Kohle, Öl und Gas aussteigen, dann sollten wir über die Vorteile der Kernenergie noch einmal neu nachdenken.“

Hambrecht erinnerte daran, wie die FAZ schreibt, dass die Elektrifizierung aller wichtigen Energieverbraucher vier bis sechsmal so viel Strom erfordere wie bisher. Allein die chemische Industrie brauche nach einer Umstellung auf elektrische Energie fast so viel Strom, wie derzeit in ganz Deutschland verbraucht werde. Diese Mengen an Ökostrom könne Deutschland niemals produzieren.

Auf gute Beziehungen zur Politikspitze nicht mehr angewiesen wurde der Wirtschaftsmanager Wolfgang Reitzle, zuletzt Chairman bei Linde, auf dem “WELT”-Wirtschaftsgipfel 20212 sehr grundsätzlich, wie die WamS vom 03.10.2021 schreibt:

„Wir müssen endlich begreifen: Das Klima retten wir entweder global oder gar nicht (…). Und wir retten es nur, wenn wir den Wettbewerb um die besten Technologien fördern und der Transfer dieser Technologien in die Welt gelingt.“ Die ökonomisch Vernünftigen seien unter der amtierenden Bundesregierung und im „okayen Wohlstand“ stumm und stumpf geworden. Er beklagte die staatliche Lenkung, Planwirtschaft, Verzichts- und Verbotskultur.

Zurück zu dem offenen Brief [2]: Deutschland könne sein CO2-Reduktionsziel für 2030 durchaus noch erreichen: Alles, was es dazu benötigt, sei eine Klima-Notstandsverordnung mit Änderung des Atomgesetzes, welche die 2010 vereinbarten Laufzeitverlängerungen für die Kraftwerke auf 2030 bis 2036 wieder in Kraft setzt.

 

[1] https://www.cleanenergywire.org/news/germany-widely-miss-2030-climate-target-draft-govt-report

[2] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article234364140/Offener-Brief-Liebes-Deutschland-bitte-lass-die-Kernkraftwerke-am-Netz.html

Anhang: