Endlagerung: Das „1-Millionen-Jahre“-Missverständnis

Internationale Grundlagen für die sichere Endlagerung radioaktiver Abfälle sind in der Reihe IAEA Safety Standards die „Safety Requirements No. WS-R-4 „Geological Disposal of Radioaktive Waste“ aus 2006 und die „EU-Council Directive on the management of spent fuel and radioactive waste“ aus 2010, um zwei Beispiele zu nennen. In keiner dieser Grundlagen wird die Forderung nach einer 1-Millionen-Jahre Sicherheit der Endlagerung erhoben.

Die 1 Millionen Jahre sind eine deutsche „Erfindung“. Auslöser war dem Vernehmen nach ein Vortrag des ehemaligen Abteilungsleiters im Bundesumweltministerium,  Wolfgang Renneberg, in der U.S National Regulatory Commission (NRC)  zu Beginn der Bundeskanzler Schröder-Ära gewesen, in dem er – unabgesprochen mit den nuklearen Beratungskommissionen des Bundes –  die Empfehlung dieser Langfristsicherheit machte.  Dieser Zeitraum wird im späteren Genehmigungsverfahren in der Form, wie er in den Sicherheitsanforderungen für ein Endlager festgeschrieben ist, Probleme bereiten. Die Nachweise sind in der gebotenen Stringenz nicht zu führen. Auch geologisch nicht. Denn zum Beispiel habe sich der 240 Mio. Jahre alte Salzstock in Gorleben im Laufe seiner Geschichte nach oben bewegt, wodurch sich seine Form änderte.

Dipl.-Phys. Ulrich Waas, Erlangen erklärt, warum es dieser langen Zeitspanne nicht bedarf:

In der Diskussion über die „Nachhaltigkeit“ von Energiequellen im Entwurf der EU-Kommission („Taxonomie“) werden von Kernenergie-Kritikern gerne die „1-Millionen-Jahre“ beschworen, über die das Endlager bewacht werden müsse. Auf Nachfragen, was denn die wissenschaftliche Grundlage für diese Aussage sein soll, habe ich jedoch bisher keine wissenschaftlich nachvollziehbare Antwort erhalten. Oft wird etwas mit „Radioaktivität“ angedeutet, aber die Fakten sehen so aus:

  • Von Natur aus sind unter der Fläche von Deutschland in der Erdkruste bis in ca. 600 Meter Tiefe – also in Tiefen oberhalb des geplanten Endlagers – mehr oder weniger verteilt etwa 1 Milliarde Tonnen Uran enthalten. Unter einer Kreisfläche mit einem Radius von gut 10 km sind es immer noch etwa 1 Millionen Tonnen. Diese Kreisfläche entspräche größenordnungsmäßig dem potenziell betroffenen Bereich, wenn man unterstellen würde, Wasser könnte irgendwie in ein abschließend versiegeltes Endlager gelangen, radioaktive Stoffe auflösen und mit Grundwasserströmungen langsam in Richtung Erdoberfläche transportieren. Diese naturgegebene Menge an Uran mit seinen Zerfallsprodukten kann deshalb als Maßstab herangezogen werden, wie weit das Inventar des vorgesehenen Endlagers für hochradioaktive Abfälle den natürlichen Zustand ändert.
  • Nach etwa 100.000 Jahren ist der abgebrannte Brennstoff radiotoxisch vergleichbar mit äquivalenten Mengen von Uranerz (Uran + Zerfallsprodukte), wie es dies vielfach im Grundwasserbereich des Untergrunds gibt. Das Uranerz interessiert dort praktisch keinen, definiert so gesehen also „irrelevant“ (und nicht etwa „gefährlich“).
  • Aber ein wesentlicher Unterschied: Der abgebrannte Brennstoff wird zur Endlagerung nicht im Grundwasserbereich im Untergrund verteilt, sondern in großer Tiefe untergebracht, abgetrennt von wasserführenden Schichten, in Strukturen, die nach allem Wissen seit etlichen Millionen Jahren stabil waren und bei denen nichts erkennbar ist, was das in den nächsten Millionen Jahren ändern würde.
  • Klar ist: Wenn – wie zu erwarten – das Endlager die Abfälle dauerhaft einschließt, haben die Abfälle in der Ökosphäre keinerlei Auswirkungen.
  • Damit gibt man sich aber nicht zufrieden, sondern untersucht, wie die Auswirkungen schlimmstenfalls sein könnten, wenn wider Erwarten irgendetwas die „Dichtheit“1) des Endlagers beeinträchtigen sollte. Klar ist wiederum: Selbst dann kann eine Auswirkung in der Ökosphäre nur entstehen, wenn die radioaktiven Stoffe aus den Abfallbehältern ausgelaugt und durch Diffusion oder mit Wasserbewegung Richtung Oberfläche transportiert werden.Wie langsam das geht, hängt nun von den Naturgesetzen bei Wasserbewegung und der Geochemie ab, und wie relevant das ist, natürlich auch von den vorhandenen Mengen an Radionukliden und deren Halbwertszeiten (HWZ). Da sind zur Veranschaulichung drei Kategorien unterscheidbar (bei detaillierterer Darstellung ergibt sich nichts wesentlich anderes):

o Spaltprodukte, wie z.B. Cs 137, die es in vergleichsweise großen Mengen gibt und die z.T. gut löslich sind. Die haben HWZ von ca. 30 Jahren oder weniger. Somit sind sie nach ca. 1.000 Jahren durch Zerfall um den Faktor 10 Milliarden oder mehr reduziert, also nicht mehr rele- vant.

o Transurane wie Plutonium etc. sind unter den ganz überwiegend chemisch reduzierenden Bedingungen im Untergrund praktisch nicht mobilisierbar2). Da sie alle per Zerfall wieder in Uran- oder Thorium-Nuklide übergehen, wie es diese von Natur aus im Untergrund gibt, haben sie praktisch keine Chance, als Transurane in die Ökosphäre zu gelangen. (Deshalb ist hier für eine sichere Endlagerung die von manchen diskutierte Transmutation weder nötig noch sinnvoll.)

o Spalt- und Aktivierungsprodukte mit sehr großen HWZ, wie z.B. I-129, 16 Millionen Jahren, oder Cl-36 mit 300.000 Jahren, sind wegen ihrer Eigenschaft, als negativ geladene Ionen aufzutreten, relativ gut im Untergrund transportierbar, aber sie liegen von Anfang an nur in relativ geringen Mengen vor. Insbesondere deren potenzielle Auswirkungen sind für die Hypothese, dass der Einschluss im Endlager nicht mehr wirksam sein sollte, in Sicherheitsanalysen unter konservativen, d.h. ungünstigen, Annahmen abzuschätzen.

• Für die Sicherheitsanalysen wird für die Metallkapselungen der Endlagergebinde lediglich eine Dichtheit von z.B. etwa 1000 Jahren3) vorausgesetzt, obwohl aus Korrosionsuntersuchungen und archäologischen Funden (z.B. Kupfer) absehbar ist, dass die Sicherheit gegen Durchkorrodieren deutlich größer ist. Nach dem Durchkorrodieren werden nur noch die von der Natur im Untergrund gegebenen physikalischen und chemischen Eigenschaften berücksichtigt. Eine „Überwachung“ dieser Vorgänge ist in mehreren 100 m Tiefe nicht nötig. Da die physikalischen und chemischen Eigenschaften im Untergrund variieren, werden in der Sicherheitsanalyse insgesamt ungünstige Werte gewählt, die rechnerisch zu einer überhöhten Transportgeschwindigkeit führen. Auf diese Weise wurde gezeigt, dass die zusätzliche Strahlenexposition durch Transport von Radionukliden in die Ökosphäre selbst mit sehr ungünstigen Annahmen zu Verzehrgewohnheiten etc. unter einer radiologischen Äquivalentdosis 10 μSv pro Jahr bleiben würde.

Was aber bedeutet „unter 10 μSv/a“? Zur Veranschaulichung (https://www.bfs.de/DE/the- men/ion/umwelt/luft-boden/flug/flug.html ):

o Bei nur einem Transatlantikflug pro Jahr von Frankfurt nach New York und zurück liegt im Mittel die Dosis bei gut dem 10fachen, d.h. bei 100 μSv.

o Die natürliche Strahlenexposition in Deutschland variiert je nach Wohnort zwischen etwa 1.000 und 10.000 μSv/a, im Mittel 2.100 μSv/a.

Wenn die von der Natur gegebenen Unterschiede von bis zu 9.000 μSv/a politisch und gesellschaftlich als nicht beachtenswert behandelt werden4) – wie kann dann ein Tausendstel davon, das unter sehr unwahrscheinlichen Zuständen dazukommen könnte, als problematisch eingestuft werden?

Noch einmal zum „1-Millionen-Jahre“-Missverständnis: Benötigt wird nach den Sicherheitsanalysen, dass die Kapselungen mindestens 1000 Jahre Korrosion aushalten und ansonsten die Naturgesetze gültig bleiben. – Es geht also um „1.000 Jahre“, nicht um „eine Millionen Jahre“! – Dass man in Sicherheitsanalysen weit über die 1000 Jahre hinausdenkt und potenzielle Folgen abschätzt, ist durchaus richtig, man könnte sagen: „Das ist nachhaltig“. In den meisten Kernenergie-nutzenden Ländern wurde diese Vorausschau auf 10.000 oder gar 100.000 Jahre ausgedehnt. In Deutschland hat man jedoch beschlossen, 1.000.000 Jahre vorausschauen zu wollen (allerdings nur bei der Kernenergie).

Es war eine strategische Meisterleistung einiger Kernenergiekritiker, aus dem Vorausschauzeitraum von 1.000.000 Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung einen „Gefährlichkeitszeitraum“ zu machen, der so erschütternd wirkt, dass der – tatsächliche – wissenschaftliche Hintergrund gar nicht mehr nachgefragt wird. – Und es ist ein weiteres Beispiel für die Schwierigkeiten der Industrie, rechtzeitig zu erkennen, welche Auswirkungen es hat, wenn man dem Entstehen eines Missverständnisses in der öffentlichen Wahrnehmung nur zuschaut.

Letztlich ist klar, dass „Gefahren der Endlagerung“ als Argument gegen die Kernenergienutzung völlig ungeeignet sind – es wäre wunderbar, wenn die Entsorgung anderer Problemstoffe, z.B. CO2 aus der Verbrennung von fossilen Energieträgern, in ähnlicher Weise „nachhaltig“ gelöst würde. Aber noch für etliche Jahre werden in Deutschland jeweils 20 Tonnen Kernbrennstoff (jährliche Nachladung für ein Kernkraftwerk), die geologisch „endgelagert“ werden könnten, durch „Endlagerung in der Atmosphäre“ von rund 10.000.000 Tonnen CO2 „vermieden“, wo sie sich – nicht hypothetisch irgendwann, sondern gleich und zwangsläufig – unmittelbar auf Klima und Lebensverhältnisse auswirken.

In vielen Ländern wird diese deutsche Variante im Bemühen um die Reduktion der CO2-Emissionen mit Kopfschütteln verfolgt – verständlicherweise.


1) „Dichtheit“ ist eine allgemeinverständliche Formulierung. Die Fachleute sprechen von der „Integrität“ eines Endlagers, die die „einschlusswirksamen Eigenschaften“ sicherstellt. Eine Dichtheit im technischen Sinne, würde erfordern, dass z.B. auch langsame Diffusionsprozesse nicht vorhanden sind, was bei geologischen Strukturen in der Regel nicht gegeben, aber auch nicht erforderlich ist. „Dichtheit“ im technischen Sinn gibt es nur z.B. mit metallischen Einschlüssen.

2) Dieser extrem langsame Transport selbst bei Wasserzutritt hat sich z.B. bei dem „Oklo-Phänomen“ gezeigt, einem „Natur- Reaktor“, der vor ca. 1,5 Mrd. Jahren für 500.000 Jahre von der Natur „betrieben“ wurde und dabei ca. 4 Tonnen Plutonium produzierte. Das Plutonium hat dort bis zu seinem Zerfall nur eine Strecke in der Größenordnung von 10 Meter geschafft.

3) Je nach Land, das an Endlagerkonzepten arbeitet, können es in der Analyse auch etwas mehr als 1000 Jahre sein.

4) Keiner zieht wegen Radioaktivität vom Hochschwarzwald nach Schleswig-Holstein um, obwohl dort die Dosis aus terrestrischer Strahlung um gut den Faktor 100 niedriger ist.