Deutschland und Europa verlieren als Industriestandort an Wettbewerbsfähigkeit

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Die Wirtschaftsexperten*) Roland Berger, Clemens Fuest, Hans-Werner Sinn, Christoph Teis und Peter-Alexander Wacker veröffentlichten in der FAZ vom 3.11.2022, was die Energiepolitik der kommenden Jahre zur Bewältigung der gegenwärtigen Energiekrise beinhalten muss.

Eingangs wird vorausgeschickt, dass die Stromproduktion auf ein Vielfaches des heutigen Wertes steigen werde, weil der Verkehr, die Heizung der Häuser und industrielle Prozesse elektrifiziert werden sollen. Nach Szenarien wird der Stromverbrauch auch bei steigender Energieeffizienz in Deutschland schon bis 2030 um rund 25 Prozent zunehmen. Im Jahr 2021 kamen noch rund 40 Prozent der Stromversorgung aus Kernkraft und Kohle. Die letzten Kernkraftwerke sollen schon im kommenden April abgeschaltet werden, die Kohlekraftwerke bis 2030. Falls das so umgesetzt wird, muss der Bedarf an regelbaren Energien in den kommenden Jahren primär durch den massiven Ausbau von Gaskraftwerken gedeckt werden.

Dem steht die Gasverknappung mit weitreichenden ökonomischen Folgen gegenüber. Eine funktionierende Gasversorgung ist für eine überwiegend auf Wind- und Sonnenstrom basierende Stromversorgung bei Zurückdrängung von Kohle- und Kernkraftwerken unerlässlich. Gleichzeitig gäbe es keine belastbaren öffentlichen Planungen für den Bau von Gaskraftwerken. Für private Investoren seien Gaskraftwerke, die auf Wasserstoff umrüstbar sind, derzeit kein tragfähiges Geschäftsmodell.

Das verdeutliche die gewaltige Dimension der geplanten Transformation.

Vorschlag der Wirtschaftsexperten:

  1. Angesichts der Unsicherheit über die weitere Entwicklung ist es wichtig, die Stromversorgung breit aufzustellen und nicht leichtfertig Optionen aus der Hand zu geben. Der Ausbau erneuerbarer Energien ist zu beschleunigen, ebenso wie der Bau von Gaskraftwerken. Kernkraftwerke sollten erst abgeschaltet werden, wenn erprobte leistungsfähige Anlagen zur Verfügung stehen, die tatsächlich ohne den Einsatz einer komplementären CO2-lastigen Regelenergie auskommen. Deutschland sollte die Kooperation mit vertrauenswürdigen Partnerländern vertiefen.
  2. Der Strommarkt sollte umfassend geöffnet und flexibilisiert werden. Derzeit verhindern Regulierungen und Wettbewerbsbeschränkungen die notwendige breite Einbindung dezentraler Erzeuger in das Energiesystem. Ein Beispiel ist die Nutzung bidirektionalen Ladens bei Elektrofahrzeugen. Das Ziel sollte darin bestehen, im Energiesystem eine Plattformökonomie zu entwickeln.
  3. Auf absehbare Zeit bleibt eine sichere und preislich wettbewerbsfähige Gasversorgung unentbehrlich. Ein Weg dahin wäre der Ausbau der Gasförderung in Deutschland und Europa durch Fracking. Hier haben technische Entwicklungen zu umweltfreundlicheren Verfahren geführt.
  4. Darüber hinaus sollten Gaspipelines in der EU und zu wichtigen Gaslieferländern in der Nachbarschaft der EU ausgebaut werden. Gas, das über Röhren transportiert wird, bleibt grundsätzlich die ökologischere und preisgünstigere Alternative zum Flüssiggas.
  5. Die Planungs- und Genehmigungsverfahren sind in Deutschland viel zu langsam. Das gilt sowohl für grüne Energien als auch für die komplementäre Gasenergie. So ist es kaum möglich, bis 2030 die ambitionierten Ausbauziele für erneuerbare Energien zu erreichen. Der Ausbau des Stromnetzes in Deutschland muss ebenfalls dringend beschleunigt werden. Auch Fracking könnte nur dann eine rasche Entlastung bieten, wenn die Genehmigungs- und Prüfdauern stark reduziert würden. Die Politik hat hier schon Veränderungen eingeleitet, aber mehr Anstrengungen sind erforderlich.
  6. Die Weiterentwicklung der Energieversorgung erfordert Anstrengungen in Forschung und Entwicklung. Staatliche Förderung sollte Schwerpunkte in den Bereichen der erneuerbaren Energien, der Energieeffizienz, intelligenter Stromnetze und Speichertechnologien der Wasserstoffwirtschaft setzen, aber andere Gebiete wie insbesondere die Fusionsforschung und die Forschung an anderen Reaktoren nicht vernachlässigen.

Grundsätzlich beklagen die Experten die von einer irrationalen Konfrontation zwischen Befürworten konventioneller und erneuerbarer Energie geprägte energiepolitische Debatte in Deutschland. Die Wahrung des Wohlstands erfordert Veränderungsbereitschaft und eine pragmatische, realistische und vorausschauende Energiepolitik, die ideologische Grabenkämpfe hinter sich lässt.“

 

Dr. Dietmar Ufer**) schrieb am 1. 12.2022 dazu folgenden Leserbrief an die FAZ:

Der „Standpunkt“ von Roland Berger et al. unter dem Titel „Wohlstand mit Energiepolitik“ entlarvt die verfehlte Energiepolitik Deutschlands gründlich – wenn auch mit wohlgesetzten Worten und zum Teil sehr zurückhaltend formuliert. Kein anderes Land verzichtet gleichzeitig auf alle planbaren Energiequellen für die Stromerzeugung und setzt auf Wind- und Solarenergie, um bis 2045 die CO2-Emissionen gegenüber 1990 um 100 Prozent zu senken (gemeint sind die technischen und hoffentlich nicht die biologischen Emissionen). Die Autoren machen deutlich, welche Voraussetzungen dafür erfüllt werden müssten: Beschleunigter Ausbau erneuerbarer Energien, von Gaskraftwerken (die natürlich CO2 emittieren) und elektrischen Netzen, spätere Abschaltung der Kernkraftwerke, Gasförderung durch Fracking u. v. a. Zugleich werden Anstrengungen in der Forschung angemahnt, z. B. in der Nukleartechnik, einem Gebiet, dass von der gegenwärtigen Regierung als tot erklärt wurde. Zugleich werden die Gas- und Strompreise in Europa auf ein Mehrfaches gegenüber den Hauptwettbewerbern USA und China steigen.

Die Autoren verzichten zwar darauf, die erwarteten ökonomischen Belastungen konkret zu quantifizieren, es wird aber klar, dass mit all diesen Maßnahmen der gegenwärtige Wohlstand und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands nicht erhalten werden können. Klar wird zugleich, dass „die Energieversorgung für private Haushalte gesichert und Deutschland als Standort für Industrie mit gut bezahlten Arbeitsplätzen“ nur zu erhalten ist, wenn auf die Einhaltung der sog. „Klimaschutzziele“ verzichtet wird: Die De-Karbonisierung führt unweigerlich zur De-Industrialisierung! Wir müssen entweder mittel- bis langfristig auf unseren Wohlstand verzichten oder uns der realen klimapolitischen Praxis der meisten anderen Länder anschließen – COP27 in Scharm el-Scheich hat es wieder gezeigt. Wohlstand und „Klimaschutz“ zusammen sind auch für ein Industrieland, wie es Deutschland (noch) darstellt, nicht möglich!

 

*)

Roland Berger ist Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft zur Förderung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung (Freunde des Ifo-Instituts) und Ehrenvorsitzender des Aufsichtsrates der Roland Berger Strategy Consultants.

Clemens Fuest ist Präsident des Ifo-Instituts.

Hans-Werner Sinn war Präsident des Ifo-Instituts.

Christoph Theis ist Mitgründer und Geschäftsführer der Technologie-Beratungsgesellschaft P3.

Peter-Alexander Wacker ist Vorsitzender des Verwaltungsrates des Ifo-Instituts und Aufsichtsrats-chef der Wacker Chemie AG.

**) Dr. rer.nat. Dietmar Ufer, Energiewirtschaftler. Von 1970 bis 1998 im Institut für Energetik in Leipzig als stellvertretender Direktor und Bereichsleiter für Energie und Ökologie tätig.