Im Rahmen des Pariser Abkommens, das im Dezember 2015 beschlossen wurde und im November 2016 in Kraft trat, vereinbarten viele OECD-Länder, eine Verringerung ihrer Treibhausgasemissionen anzustreben, die ausreicht, um den Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 °C zu halten. Um die globalen Temperaturen auf unter 2 °C zu halten, müssen, so die weit verbreitete Auffassung, die Treibhausgaskonzentrationen in der Erdatmosphäre auf etwa 450 ppm (Partikel pro Million) CO2-Äquivalent begrenzt werden. (Der Treibhauseffekt des vom Menschen erzeugten Kohlendioxids ist wissenschaftlich nicht erwiesen und wird von zunehmend mehr Wissenschaftlern bestritten.)
Prognosen gehen davon aus, dass die CO2-Emissionen aus den Stromsektoren der OECD-Länder bis zur Mitte des Jahrhunderts um fast 90 % gesenkt werden müssten, um dem Ziel 2 °C entsprechende Reduktionen zu erreichen. Die durchschnittliche Kohlendioxidintensität des in den OECD-Ländern erzeugten Stroms von heute 430 g CO2 pro kWh müsste bis 2050 auf etwa 50 g CO2 pro kWh reduziert werden, wie OECD-NEA in ihrer Studie schreibt [1]. Bei Verfolgung dieses Ziels sind gravierende Eingriffe in das Stromsystem unvermeidbar.
Der Verzicht auf Kohle, Gas und Öl, die sogenannte Decarbonisierung, erfordert eine radikale Umstrukturierung der Stromsektoren der einzelnen OECD-Länder und einen wirklich massiven Einsatz kohlenstoffarmer Technologien, insbesondere der Kernenergie und der erneuerbaren Energien wie Windkraft und Solarenergie [1]. Andere Erzeugungsoptionen, einschließlich Wasserkraft, sind in einem Zeitfenster von nur 25 bis 35 Jahren begrenzt, was angesichts der „Trägheit“ der Elektrizitätssysteme kurz ist im Vergleich zur Betriebsdauer von Kraftwerken und Übertragungsinfrastruktur, die häufig eine Lebensdauer von 60 Jahren und mehr haben.
Die OECD-NEA-Studie [1], die sich an politische Entscheidungsträger richtet, enthält die wichtigsten Überlegungen bei der Beurteilung von Entscheidungen, die eine weitestgehende Dekarbonisierung des zukünftigen Elektrizitätssystems – weniger als 50 g CO2/ kWh – bewirken könnten. Diese sind:
- Was ist der kostengünstigste Mix, um mit einem bestimmten Anteil an regenerativer Energie ein Dekarbonisierungsziel zu erreichen?
- Welche Technologien stehen zur Verfügung, welche vernünftigerweise zu erwartenden Kosten und welche Auswirkungen haben sie auf die Zuverlässigkeit des Stromsystems?
- Welche Politik wird zu den langfristigen Investitionen führen, die eine weitgehende Dekarbonisierung erfordert?
In der OECD-NEA-Studie [1] werden die Kosten alternativer kohlenstoffarmer Elektrizitätssysteme bewertet, die eine strikte Reduzierung der CO2-Emissionen im Einklang mit den Zielen des Pariser Abkommens ermöglichen. Es werden die Gesamtkosten von sechs verschiedenen Szenarien des Elektrizitätssektors in einem repräsentativen OECD-Land verglichen, immer mit dem Ziel von nur 50 g CO2pro kWh, jedoch unterschiedliche Anteile an Kernenergie und erneuerbaren Energien (EE) enthalten, insbesondere Wind- und Sonnenenergie. Diese EE-Anteile variieren zwischen 0 % (Basisfall) und 75 % des gesamten Stromverbrauchs. Die Studie zeigt insbesondere die Auswirkungen auf die Variabilität der Wind- und Solarenergieproduktion auf Stromsystemkosten, die als kostspielige Anpassungen des verbleibenden Systems erscheinen. Das Basisszenario besteht aus Wasserkraft, Kernkraft und Gas.
Es überrascht nicht, dass bei einer Erhöhung des EE-Anteils an erzeugtem Strom die erforderliche Leistungskapazität auf das Dreifache des Basisfalls ansteigt. Die Kernkraft nimmt deutlich ab und die Gaskapazität verdoppelt sich. Der Rückgang im Nuklearbereich ist auf die hohen Anforderungen an das Hoch- und Herabfahren von EE an das System zurückzuführen. Nukleartechnik kann dies berücksichtigen, aber ab einem bestimmten Maß beeinflusst es den Lastfaktor so stark, dass Kernkraft unwirtschaftlich wird. Der Batteriespeicher spielt in jedem Szenario der Studie eine sehr begrenzte Rolle. Die Speicherkosten sind für die Frequenzsteuerung oder für einen kurzzeitigen Strombedarfsausgleich günstig, aber auf keinen Fall kann der Batteriespeicher bei mittel- bis langfristigen Speichern aus Kostengründen eine Rolle spielen. Daher muss die Stromversorgung, wenn es – wetterbedingt – keinen EE-Strom gibt und nicht genügend Kernkraftwerke vorhanden sind, durch Gaskraftwerke sichergestellt werden.
Die Stromkosten steigen von 65 US-Dollar/MWh im Basisfall auf 130 US-Dollar bei einem EE-Anteil von 75 %. Die Kosten für die Bereitstellung der Residuallast [2] steigt mit zunehmendem EE-Anteil. Je mehr erneuerbare Energien vorhanden sind, desto teurer ist die Residuallast und um so unwirtschaftlicher wird der Kraftwerksbetrieb. Bei einem EE-Anteil von mehr als 50 % führt eine Überkapazität installierter Leistung zu immer stärkeren Einschränkungen der EE-Anlagen.
Jan-Horst Keppler, NEA, sagte im Rahmen des Web-Seminars, das für die Studie gegeben wurde: “Ein ideales und kostengünstigstes System sollte ein Drittel der volatilen regenerativen Energie, ein Drittel der Kernkraft und den Rest Wasserkraft umfassen, sofern verfügbar, Gas mit CCS, wenn erschwinglich und Flexibilität gefordert ist.”
Der Senior Adviser der World Nuclear Association kommt in der Bewertung der OECD-NEA-Studie zu folgender Schussfolgerung [3]:
Die Kernkraft wird in zukünftigen entkarbonisierten Systemen eine Schlüsselrolle spielen. Obgleich sie zuverlässig große Mengen kohlenstoffarmen Stroms liefert, steht sie in einigen OECD-Ländern vor Fragen der sozialen Akzeptanz. Dennoch zeigt diese Studie, dass die Kernenergie trotz ökonomischer Herausforderungen für einige Reaktoren der neuen Generation nach wie vor die wirtschaftlich optimale Wahl ist, um strikten Kohlenstoffauflagen zu genügen. Die Betriebskosten von EE sind auf beeindruckende Weise gesunken, aber die Gesamtkosten für das System werden nicht berücksichtigt, da die installierte Leistung nur während einer begrenzten Anzahl von Arbeitsstunden zur Verfügung stehen. Alle diese Faktoren werden bei den endgültigen Entscheidungen des jeweiligen Landes eine Rolle spielen.
Aus der OECD-NEA-Studie ist auch folgender Schluss zu ziehen: Eine Bezahlbare und verfügbare Stromversorgung als Voraussetzung für unsere Industriegesellschaft und ihres wirtschaftlichen Erfolges ist nur mit Unterstützung fossiler oder nuklearer Stromerzeugung möglich. Der totale Verzicht auf Kohlekraftwerke bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Kernenergie stellt ein Kapitalvernichtungsprogramm von geradezu astronomischem Ausmaß dar, das in einem Industrieland wie Deutschland zu einer unvorstellbaren wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe führen würde.
[1]OECD-NEA, The Costs of Decarbonisation: System Costs with high shares of nuclear and renewables, 2019, NEA No.7299, https://www.oecd-nea.org/ndd/pubs/2019/7299-system-costs.pdf
[2]Die Residuallast ist der Anteil am gesamtdeutschen Stromverbrauch, der unabhängig von den volatilen Energieträgern Wind und Sonne ist. Es handelt sich also um den Restbedarf an Strom, der mehrheitlich aus konventionellen Quellen gedeckt wird.
[3]Philippe Costes, senior adviser at World Nuclear Association, “Viewpoint: Studying of decarbonisation”, 30. Januar 2019 http://www.world-nuclear-news.org/Articles/Viewpoint-Studying-the-cost-of-decarbonisation