Die Bundesregierung plant den Ausstieg aus der Verstromung von Stein- und Braunkohle in Deutschland mit dem Ziel, die nationalen Kohlendioxidemissionen zu reduzieren. 2038 soll nach Vorgaben der Kohlekommission das letzte Kohlekraftwerk seinen Dienst einstellen. Die Kernkraft wurde bereits 2022 beendet. Durch den Kohleausstieg entfallen rund 43 Gigawatt gesicherte Leistung, durch den Ausstieg aus der Kernenergie ca. 10,8 Gigawatt. Insgesamt müssen also über 50 Gigawatt gesicherte Leistung in nicht mal 20 Jahren ersetzt werden. Das entspricht zusammen mehr als die Hälfte der gegenwärtigen konventionellen Kapazität [1].
Nach Einschätzung der Übertragungsnetzbetreiber, der Deutschen Energie-Agentur sowie des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft BDEW werden weitere ersatzlose Stilllegungen von grundlastfähigen Kraftwerken eine nicht zu rechtfertigende Gefährdung der Versorgungssicherheit in Deutschland darstellen und darüber hinaus zu einer erhöhten Abhängigkeit von Stromimporten führen.
Der BDEW-Vorsitzende Stefan Kapferer sieht zwar Handlungsbedarf, aber „was aktuell an Zubau stattfindet, sowohl an erneuerbaren Energien als auch an Gaskraftwerken, kann nicht kompensieren, was an gesicherter Leistung mit dem schrittweisen Kohleausstieg und dem Kernenergieausstieg vom Netz geht.“ Eine Aussage, die die kritische Situation auf den Punkt bringt.
Die Bundesregierung sieht keinen Grund zur Beunruhigung [2]. „Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie steht derzeit in einem vertieften Austausch mit der Bundesnetzagentur und den deutschen Übertragungsnetzbetreibern zum Thema der netzverträglichen Abschaltung von Kohlekraftwerken.“ Die von der Bundesnetzagentur aufgeworfenen Fragen bezüglich der Auswirkungen eines Kernenergieausstiegs auf den Netzbetrieb „wurden von der Bundesregierung ernst genommenund haben sich in der Implementierung verschiedener Prozesse niedergeschlagen, die allesamt der Erhaltung und Stärkung der Systemsicherheit des Stromnetzes dienten und dienen. Hier sind beispielhaft zu nennen:
– Als direkte Reaktion auf den Kernenergieausstieg hatte die Bundesregierung die Bundesnetzagentur beauftragt zu prüfen, ob Kernkraftwerke als nukleare Reservekraftwerke gehalten werden müssten. Nach intensiver Prüfung wurde dies seitens der Bundesnetzagentur verneint.
– Systemrelevante Kraftwerke, die zur Stilllegung angezeigt wurden, wurden in 2011 etablierte Netzreserve überführt.
– Der netzentwicklungsplan wurde ins Leben gerufen, um den notwendigen Netzausbau zu bestimmen und zügig umzusetzen.“
Eine weitere Beruhigungspille lautet: „Dieses Vorgehen hat bislang und wird auch weiterhin ein hohes Niveau an Versorgungssicherheit garantieren. Bislang gab es keine sicherheitsrelevanten Vorfälle in der deutschen Stromversorgung.“ Anscheinend bedarf es solcher Vorfälle, um den Ernst der Versorgungslage nach dem Kernenergieausstieg und besonders nach dem Kohleausstieg zu begreifen. Die Auffassung der Bundesregierung,„die deutsche Wirtschaft und die privaten Verbraucherinnen und Verbraucher können sich damit auf das deutsche Stromnetz verlassen“, klingt nach Zweckoptimismus.
Die Bundesregierung stützt sich bei ihrer Beurteilung der Versorgungssicherheit auch auf den „gesamten europäische Markt“, wodurch die Versorgung sicherer sei als eine rein nationale. „Dies bedingt, dass sich die Nachbarn in Europa jeweils aufeinander verlassen.“
Richtig ist zwar, dass der Strommarkt in Europa und Deutschland derzeit von deutlicher Überkapazität geprägt sei, dass dies aber „die Früchte der Effizienz seien, die aus der europäischen Marktkopplung resultiere“, ist arg übertrieben. Vielmehr hat der uferlose und unkoordinierte Ausbau der erneuerbaren Energien zu dieser Überkapazität geführt. Aus der europäischen Überkapazität, die sicher im nächsten Jahrzehnt reduziert wird, zu schließen, dass Deutschland im Fall einer momentanen Unterversorgung der eigenen Stromproduktion mit Strom aus europäischen Nachbarländern versorgt wird, wäre sehr verwegen. Denn die zumeist wetterbedingten Umstände, die zu einem erhöhten Strombedarf führen, gelten dann europaweit. So haben auch Nachbarstaaten nicht eben mal 10 oder 20 GW Leistung abzugeben.
Ebenso wenig überzeugend und nachvollziehbar bleibt die Bundesregierung in ihrer Antwort [3] auf die Frage nach der Strategie hinsichtlich der zukünftigen Rolle von Speichertechnologien in der deutschen und europäischen Energieversorgung:
„Dem Strommarkt und für den Netzbetrieb stehen verschiedene Flexibilitätsoptionen zur Verfügung, um Erzeugung und Verbrauch jederzeit zu synchronisieren. Speicher wie Pumpspeicherkraftwerke und Batteriespeicher gehören zu diesen Flexibilitätsoptionen genauso wie zum Beispiel der grenzüberschreitende Stromhandel, die Flexibilität bei Erzeugung und Verbrauch sowie der Netzausbau.“
Kenner dieser Webseite reiben sich verwundert die Augen. Welche Pumpspeicherkraftwerke? Welche Batteriespeicher? Der Strombedarf in Deutschland beträgt täglich 16oo GWh. Die vorhandene Speicher-Kapazität aller 35 Pumpspeicher in Deutschland beträgt zurzeit gerademal 40 GWh, womit Deutschland knapp 40 Minuten lang – und dies auch nur rein rechnerisch – mit Strom versorgt werden könnte. Ganz zu schweigen davon, wenn eine mehrtägige Windflaute besteht und der Ökostrom ausbleibt. Über die Kosten und Wirtschaftlichkeit ihrer „Flexibilitätsoptionen“ merkt die Bundesregierung aus gutem Grund lediglich an, dass sie diese im Einzelnen nicht einschätzen könne. Fakt ist, sie würden zu horrenden Stromkosten führen.
Mangels eigener hinreichender Speicherkapazität unterstützt die Bundesregierung die Einbindung der Schweiz in den gesamten Stromhandel. „Aufgrund der topologischen Gegebenheiten verfügt die Schweiz über eine größere Anzahl von Pumpspeicherkraftwerken, die als Flexibilitätsoptionen am Markt teilnehmen können und einen Beitrag zum Ausgleich in den Stunden leisten können, in denen kein Wind weht und keine Sonne scheint.“ [3]
Die Schweiz allerdings wird im Fall der Einbindung andere Interessen verfolgen. Dies ist einer Kurzdokumentation des Schweizer Nuklearforums [4] zu entnehmen, worin es heißt:
„Die Schweiz kann sich in naher Zukunft immer weniger auf gesicherte Importmöglichkeiten aus Deutschland und den übrigen Nachbarländern verlassen.
Im Winter – in der auch in Süddeutschland und dem übrigen Europa kritischen Zeit für die Stromversorgung – ist unser Land in erheblichem Masse auf Importe angewiesen.
Das Risiko einer schweren Störung der Stromversorgung der Schweiz wird von Jahr zu Jahr grösser. Dies umso mehr, falls in Deutschland die Kohlekraftwerke beschleunigt außer Betrieb genommen werden und Frankreich wie geplant bis spätestens April 2020 das Kernkraftwerk Fessenheim im Elsass stilllegt.“
Ein Gradmesser für die Brisanz der anscheinend stets gesicherten Stromversorgung ist das Ausmaß der Reservekraftwerks-Kapazitäten. In ihrer kritischen Situationsanalyse schreibt die WELT [5], „die Energiewende fordert das Stromnetz zunehmend heraus. Die Zahl der Kraftwerke, die als Folge von Energiewende und Atomausstieg ausschließlich für den Notfall bereitgehalten werden müssen, steigt in den nächsten Jahren erneut auf Rekordwerte.“
Anmerkung zur Grafik: Bis 2018 war auch noch Österreich Teil einer gemeinsamen Netzzone mit Deutschland. Durch den vom europäischen Netzbetreiberverband verfügten Hinauswurf Österreichs aus dem gemeinsamen Marktgebiet sank der Reservebedarf in Deutschland seither.
Laut Bundesnetzagentur steigt der Bedarf an Reservekraftwerken bis zum Winter 2022/2023 auf den Rekordwert von 10.647 Megawatt. Damit muss eine Erzeugungskapazität, die umgerechnet der von zehn Atomkraftwerken entspricht, nur zum Zwecke der Stromnetzstabilisierung in Betrieb gehalten werden.
„Es gibt nach wie vor einen Bedarf an Netzreserve, um das deutsche Stromnetz in kritischen Situationen stabil zu halten“, kommentierte Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur, die neueste Prognose. „Das macht die Bedeutung eines zügigen Netzausbaus deutlich.“[5]
Was bei einem bundesweiten Totalausfall des Stroms auf dem Spiel steht, hat in aller Deutlichkeit der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages ausführlich beschrieben. Sein Bericht [6] ist an Dramatik nicht zu überbieten. In der Zusammenfassung heißt es wörtlich:
“In modernen, arbeitsteiligen und hochtechnisierten Gesellschaften erfolgt die Versorgung der Bevölkerung mit (lebens)notwendigen Gütern und Dienstleistungen durch ein hochentwickeltes, eng verflochtenes Netzwerk “Kritischer Infrastrukturen”. Dazu zählen u. a. Informationstechnik und Telekommunikation, Transport und Verkehr, Energieversorgung oder das Gesundheitswesen. (…)
Aufgrund der nahezu vollständigen Durchdringung der Lebens- und Arbeitswelt mit elektrisch betriebenen Geräten würden sich die Folgen eines langandauernden und großflächigen Stromausfalls zu einer Schadenslage von besonderer Qualität summieren. Betroffen wären alle Kritischen Infrastrukturen, und ein Kollaps der gesamten Gesellschaft wäre kaum zu verhindern. Trotz dieses Gefahren- und Katastrophenpotenzials ist ein diesbezügliches gesellschaftliches Risikobewusstsein nur in Ansätzen vorhanden.”
Der Bericht gilt auch heute, sieben Jahre später, unverändert. Bei der Durchsicht oben zitierter Antworten der Bundesregierung gewinnt man nicht den Eindruck, dass sich die Bundesregierung dem Ernst der Lage bewusst ist.
[1] bdew.de/presse/presseinformationen/zahl-der-woche-ueber-50-gigawatt/ vom 03.06.2019
[2] Bundestagsdrucksache 19/9656 vom 23.04.2019 „Versorgungssicherheit nach Kraftwerksstilllegungen und dem geplanten Kohleausstieg“
[3] Bundestagsdrucksache 19/9486 vom 16.04.2019 „Schweizer Pumpspeicherkraftwerke für den europäischen Strombinnenmarkt“
[4] Nuklearforum Schweiz, „Kernpunkte“, Sommer 2019, Kurzdokumentation
[5] WELT „Deutschlands Bedarf an Reserve-Kraftwerken verdoppelt sich“, 03.05.2019
[6] Bundestagsdrucksache 17/5672, 27.04.2011, TA-Projekt: Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen und langandauernden Ausfalls der Stromversorgung