In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26. 10. 2020 erschien ein Interview mit dem Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) Rafael Grossi. Die Fragen stellte Stephan Löwenstein. In Anbetracht des deutschen Kernenergieausstiegs und der von der EU angestrebten Taxonomieregelung, die in der augenblicklichen Fassung keine Förderung der Kernenergie vorsieht, sind die Fragen und ihre Beantwortung durch Grossi zur Kernenergie von aktueller Bedeutung. Siehe dazu auch die IAEA-Kernenergieprognosen bis 2050.
Sie reisen diese Woche nach Deutschland. Gibt es da überhaupt noch Themen für Sie als IAEA-Chef?
Deutschland ist ein Schlüsselland in jeder internationalen Organisation, in dieser hier erst recht. Es gibt die Energiewende und den „Ausstieg“, der eine Reihe von Herausforderungen mit sich bringt – politisch wie technisch. Die Agentur arbeitet eng mit Deutschland auf einer Reihe von Gebieten zusammen, ob es nuklearer Abfall ist oder Abbau von Reaktoren, nukleare Sicherheit oder der Schutz vor nuklearen Bedrohungen. Die Tatsache, dass Deutschland in einigen Jahren keine Nuklearreaktoren mehr betreibt (Anmerkung: in etwas mehr als zwei Jahren!), heißt nicht, dass wir nicht mehr miteinander zu tun haben, im Gegenteil.
Welche Rolle spielt Kernenergie beim Klimawandel?
Sie ist Teil der Lösung. Ein Drittel der sauberen Energie in der Welt ist nuklear. Ohne Kernenergie würde sich der CO2-Ausstoß vervielfachen. Sie ist eine äußerst effiziente Ergänzung zu den Erneuerbaren, die bekanntlich nicht immer gleichmäßig Energie liefern. Das Problem in der Welt ist Dekarbonisierung, nicht Denuklearisierung.
Die IAEA ist eine Organisation, die eine Menge Optimismus über die Möglichkeiten nuklearer Energie verströmt. In Deutschland herrscht, gelinde gesagt, Skepsis vor. Was kann ein Aussteiger in einer solchen Organisation noch groß für eine Rolle spielen?
(….) „Die Welt sieht einen kräftigen Anstieg bei der Nutzung nuklearer Energie. In Indien, China, Russland, Osteuropa, Lateinamerika (Ergänzung: Auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten). Es gibt ein paar wenige Länder, die aussteigen – und eigentlich nur eines, dass das wirklich ernsthaft versucht: Deutschland. Das ist nicht irgendein Land, sondern führend in der Welt. Die Nuklearindustrie in meinem Land, Argentinien, besteht aus deutscher Technik. Der Ausstieg war politisch begründet, nicht technisch.“ Problemlos funktionierende Anlagen seien oder werden heruntergefahren. Dadurch würden sich eine Reihe von Herausforderungen ergeben.