Die Energiewende, Risiken für den Industriestandort Deutschland

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Aktueller Gastbeitrag1) von Dr.-Ing. Peter Preusser2)

Deutschland ist das einzige hochentwickelte Industrieland der Welt, das für seine Energieversorgung allein auf die volatilen erneuerbaren Energien setzt. Die Politik vertraut bei ihren Vorgaben fast ausschließlich auf die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien, die einander allerdings in wesentlichen Punkten widersprechen. Wesentliche Bausteine der Konzepte und ihr Einfluss auf die Versorgungssicherheit sind bisher nur unzureichend beschrieben. Eine belastbare Bedarfsprognose, die auch den Effekt der Sektorkopplung und den Umbau der Industrielandschaft einschließt, ein beschlussfähiges Rahmenkonzept, ein durchkalkulierter Kostenrahmen und ein Rahmenterminplan mit Eckpunkten fehlen bis heute trotz der strammen Zeitvorgaben. Es gibt keine Projektorganisation und keine ganzheitlich für das Projekt Verantwortlichen. An industriellen Maßstäben gemessen, ist eine derartige Projektabwicklung undenkbar. Es geht um nicht weniger als um den nahezu vollständigen Umbau eines über mehr als 100 Jahre aufgebauten Systems einschließlich der von der Art der Energieversorgung abhängigen Industrie innerhalb von 24 Jahren.

Mit dieser Ausarbeitung möchte ich auf die nach unserer Einschätzung wichtigsten versorgungstechnischen Auswirkungen aufmerksam machen, die in fast allen Studien nur am Rande angesprochen werden, wahrscheinlich vielen politischen Entscheidungsträgern so nicht bekannt sind oder zunächst gern verdrängt werden. Die Themen Klimaschutz und Energiewende werden sicher Schwerpunktthemen im kommenden Bundestagswahlkampf sein. Mit diesem Schreiben möchte ich nicht nur auf die kritischen Punkte hinweisen, sondern bitten dafür zu sorgen, dass diese Punkte nicht in der von Klimaeuphorie geprägten Diskussion untergehen.

Versorgungssicherheit

Der Ausstieg aus der Kernenergie ist für Ende 2022 vorgesehen. Es gibt massive Bestrebungen, den bisher bis 2038 vorgesehenen Kohleausstieg auf 2030 vorzuziehen. Wie aus der beigefügten Grafik am Beispiel einer wind- und sonnenarmen Woche leicht ersichtlich ist, gibt es dann Leistungslücken von bis zu 30 000 MW. Von Wochen wie der hier gezeigten gibt es jährlich mehrere, wie man leicht anhand der für jede Woche der letzten Jahre veröffentlichten Fraunhofer Energy Charts nachvollziehen kann.

Zum Schließen dieser Lücken sind schnellstartfähige und dynamische Gaskraftwerke, entweder als offene Gasturbinen (modifizierte Flugzeugtriebwerke) oder als Motorkraftwerke vorgesehen, weil sie sich schnell der volatilen Stromerzeugung aus Wind und Sonne anpassen können. Ein Beispiel dafür ist die Anlage Biblis, bestehend aus 11 Gasturbinen mit einer Gesamtleistung von 300 MW. Vom Planungsbeginn über die Ausschreibung, das Genehmigungsverfahren und den Bau bis zur Inbetriebnahme benötigt ein derartiges Projekt eher drei als zwei Jahre. Zur Schließung der Kapazitätslücke von 30 000 MW sind 100 Anlagen dieser Art notwendig. Das Problem wird sein, dass wir schneller ungeliebte Kapazitäten abbauen wollen als wir Ersatzlösungen bereitstellen können.

Erschwerend kommt hinzu, dass es bei den gegenwärtigen Preismechanismen und energiepolitischen Rahmenbedingungen im Strommarkt praktisch keine Anreize zur Investition in Ersatzkraftwerke gibt, es sei denn, die Übertragungsnetzbetreiber wie Amprion in den Fällen Biblis und Leipheim garantieren den überwiegenden Teil des Kapitalrückflusses.

Gelingt es nicht, die notwendige Gaskraftwerkskapazität innerhalb des für die Stilllegung der Kohlekraftwerke vorgesehenen Zeitraums bereitzustellen, müssen die Kohlekraftwerke länger am Netz bleiben. Heute ist es bereits so, dass die Kohlekraftwerke Heydn 4 und Westfalen, deren Stilllegung vereinbart war, als systemrelevant am Netz bleiben und auch eingesetzt werden.

Das bestehende System krankt daran, dass man die Speicherung von Strom weit mehr als 10 Jahre sträflich vernachlässigt hat. Die Speicherung von Strom wurde nicht hinreichend thematisiert. Dementsprechend wurde auch kaum in die Entwicklung investiert. Langzeitspeicher, die mehrere aufeinander folgende wind- und sonnenarme Tage überbrücken können, gibt es nicht. Kürzlich wurde in Verbindung mit der Einweihung des Kabels nach Norwegen mit einer Übertragungskapazität von 1,4 GW (Nordlink, Investitionsvolumen 2 Mrd. €) von Peter Altmeier in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, damit sei das Problem der „Dunkelflaute“ gelöst. Ich erlaube mir den Hinweis, dass Norwegen in 2020 Versorgungsengpässe hatte und Stromimportland war. In diesem Zusammenhang wurde laut Presseberichten bekannt, dass die norwegische Bevölkerung nicht bereit sei, derart massive Eingriffe in die Natur zuzulassen, um ausländische Stromnetze zu stabilisieren. Selbst wenn die großen Speicherseen in Norwegen für die Überbrückung der Dunkelflaute mit einer Kapazität von 30 GW genutzt werden könnten, wären die Verlegung von weiteren Kabeln mit der 21-fachen Kapazität von Nordlink und der Bau von 30 GW Wasserkraftwerken mit einem Investitionsvolumen von rd. 180 Mrd. € notwendig.

Das Problem der volatilen Stromerzeugung und der fehlenden Speicher soll nun dadurch gelöst werden, dass ein großes Vielfaches an Windkraft- und PV-Anlagen installiert wird. Die Grafik zeigt, dass dieser Weg nur beschränkt tauglich ist. Er führt zu einer Kannibalisierung der Anlagen bei stärkerem Wind und stärkerer Sonneneinstrahlung. Große Teile des Anlagenparks müssen dann unwirksam geschaltet werden. Das erhöht die Stromerzeugungskosten des Gesamtsystems signifikant, ohne zur Lösung des Problems fehlender Speicher beitragen zu können, da die Kosten der einzelnen Anlagen fast nur Festkosten sind. Es wird auch signifikant zunehmende Zeiten mit negativen Strompreisen geben, d. h. wir zahlen eine Entsorgungsgebühr für teuer eingekauften Strom. Letzteres ist heute schon in mehr als 300 Stunden pro Jahr der Fall.

Es ist daran gedacht, die sich schon ab 2023 ergebende Lücke zunächst mit Erdgas in den noch zu bauenden Gaskraftwerken zu schließen. Später sollen die Gaskraftwerke mit ökostrombasiertem Wasserstoff oder Synthesegas betrieben werden. Damit kommen wir zwangsläufig zum Thema Strompreise.

Strompreisentwicklung

Schauen wir zunächst auf die Strompreisentwicklung in der Übergangszeit der Stilllegung von Kernkraft- und Kohlekraftwerken sowie des Hineinwachsens der neuen Gaskraftwerke. Nach dem heutigen Marktmodell (immerhin ein EU-Modell) werden die neuen Gaskraftwerke über viele Jahre die weitaus meisten Stunden des Jahres Grenzanbieter sein und den Börsenpreis setzen. Ihre variablen Kosten werden ca. 40% höher sein als diejenigen der Gas- und Dampfturbinenkraftwerke. Die Großhandelspreise dürften auf 10 ct/kWh und mehr steigen. Diese Erhöhung trifft alle deutschen Stromverbraucher mit voller Wucht. Wie lange wir Erdgas als Übergangsenergie benötigen, ist im Moment nicht abschätzbar.

Für den Endzustand des Ausbaus der regenerativen Energie zur Deckung der heutigen Strombedarfs von 600 TWh/a geht man davon aus, dass noch ungefähr 10% des Strombedarfs über die Gaskraftwerke gedeckt werden sollen. Andere gehen von 20% aus. Die Gaskraftwerke sollen dann mit elektrolytisch erzeugtem Wasserstoff oder mit synthetischem Methan (P2G) betrieben werden. Wir sind nicht sicher, ob Jeder weiß, wovon er da spricht. Allein um10 % des heutigen Strombedarfs von 600 TWh/a, d. h. 60 TWh/a, auf diesem Wege zu erzeugen, müssten wegen des schlechten Gesamtwirkungsgrades der Prozesskette von rd. 20% etwa 300 TWh/a Ökostrom bereitgestellt werden. Das ist mehr als unsere in 20 Jahren EEG aufgebauten Anlagen hergeben. Hinzu kommen die Festkosten der Elektrolyseanlagen, der Speicherung und des Transports des Gases sowie der Gaskraftwerke.

Noch eine Anmerkung zum Marktdesign: wie bereits oben erwähnt, werden die Großhandelspreise in der Übergangszeit viele Stunden des Jahres durch die Gasturbinen bestimmt und entsprechend hoch sein. Mit zunehmendem Ausbau der Erneuerbaren werden nach dem bisherigen Marktmodell die Stunden mit Börsenpreisen Null oder negativ zunehmen. Das Marktdesign und die Mechanismen des EEG passen nicht zusammen. Eine Neuordnung ist dringend notwendig.

Stilllegung der Kernkraftwerke

Nach der Tsunami-Katastrophe in Fukushima wurden 11 der 17 deutschen Kernkraftwerke stillgelegt. Die Strommengen wurden auf Braunkohle-, Steinkohle- und Gaskraftwerke verlagert. Dies führte in der Folge zu einem signifikanten CO2-Anstieg in der Stromerzeugung. Aktuell ist die Beschlusslage, dass die verbliebenen 6 Kernkraftwerke mit einer Gesamtleistung von rd. 8 000 MW bis Ende 2022 stillgelegt werden sollen. Diese Kraftwerke haben 2019 eine Strommenge von rd. 71 TWh erzeugt. Ihre Stilllegung macht mehr als 40% dessen zunichte, was alle Windkraft- und PV-Anlagen in 2019 nach fast 20 Jahren EEG an CO2-Einsparungen gebracht haben.

Mit der Stilllegung der verbliebenen Kernkraftwerke wird der Möchtegern-Vorreiter Deutschland im internationalen Dekarbonisierungsranking weitere Plätze verlieren (s. u.)

Ist die Reihenfolge des Ausstiegs – erst Kernenergie, dann Kohle – angesichts der Klimaschutzdiskussion noch sachgerecht?

Ein Blick über den Zaun

Während Deutschland aus der Kernenergie aussteigt, wird die Kernenergie weltweit, selbst vom IPCC als Option zur CO2 freien Stromerzeugung gesehen. Nach einer Auflistung der IAEA von 2017 sind weltweit rd. 450 Kernkraftwerke in Betrieb, mehr als 50 im Bau und rd. 200 in der Planung.

Selbst die von Kernkraftwerkshavarien getroffenen Länder wie die Ukraine (Tschernobyl) und Japan (Fukushima) planen neue Kernkraftwerke. Kürzlich hat Polen angekündigt, bis 2040 sechs Reaktoren mit einer Gesamtleistung von 10 000 MW in Betrieb zu nehmen.

Das Beispiel Frankreich

Aus eigener Erfahrung weiß ich um den Wettbewerb zwischen Deutschland und Frankreich um die Ansiedlung von Industriebetrieben. Die bestehenden Kraftwerksparks beider Länder gehen auf die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts zurück. Deutschland setzte aus Gründen der Versorgungssicherheit etwa zu je einem Drittel auf die heimischen Primärenergien Braunkohle, Steinkohle und die quasi-heimische Kernenergie. Frankreich verfügt nicht über die entsprechenden Primärenergieressourcen und setzte stark auf die Kernenergie, die heute den Strombedarf zu ca. 70% deckt. Daneben verfügt Frankreich über größere Wasserkraftpotenziale als Deutschland, wie es auch aus der soeben gezeigten Grafik hervorgeht.

Was den Klimaschutz angeht, ist Frankreich heute in der günstigeren Wettbewerbssituation, vor allem, wenn man den Strommarkt segmentiert. Es gibt Marktsegmente, die auf eine stabile Grundlastversorgung angewiesen sind. Dazu gehört vor allem die Industrie. Darüber hinaus gibt es Marktsegmente wie private Haushalte und KMU und vielleicht noch einige Andere. Nur letztere sind in der Lage, die volatile Erzeugung aus Wind und Sonne durchgeschicktes Demand-Side-Management und dezentrale Batteriespeicher auszugleichen. Mit einem solchen Ansatz könnte Frankreich beispielsweise in Richtung Erneuerbare diversifizieren und den Kernenergieanteil nach und nach durch Abschalten der ältesten Kraftwerke reduzieren, ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden. Für die Darstellung der Versorgungssicherheit in wind- und sonnenarmen Wochen reicht es dann, Gasturbinen für den Teilmarkt oberhalb der Kernkraftwerke zu errichten. Deutschland dagegen schaltet die noch verbliebenen Elemente im Kraftwerksportfolio, die einen Stabilitätsbeitrag zur Grundlast leisten können, ab. Stattdessen wird in einigen politischen Kreisen über einekünftige angebotsorientierte Stromversorgung diskutiert, eine für die Industrie nicht akzeptable Ansage, die zwangsläufig zu Stilllegungen und Produktionsverlagerungen ins Ausland führen wird.

Leichtfertigerweise wird häufig unterstellt, Versorgungsengpässe im deutschen Netz bei wenig Wind und Sonne könnten durch Bezüge aus dem benachbarten Ausland ausgeglichen werden. Weder Frankreich noch Polen als große Nachbarländer – die im Übrigen selbst große Anstrengungen zur Klimaneutralität unternehmen müssen – werden ausreichend hohe regelbare Kapazitäten aufbauen oder bereithalten, um dem bevölkerungsreichsten und höchstindustrialisierten Land Europas über Wind- und Dunkelflauten zu helfen. Ihre Ambitionen werden eher dahin gehen, Reinvestitionen deutscher Industrieunternehmen mit den Argumenten der Versorgungssicherheit und günstiger Preise für ihr Land zu gewinnen. Die Voraussetzungen dazu sind besonders in Frankreich gut, da in Deutschland noch viele Jahre mit steigenden CO2-Kosten belastete Kohle- und Gaskraftwerke die Großhandelsstrompreise bestimmen werden. Bei den Gaskraftwerken kommen die höheren Brennstoffpreise, ebenfalls mit CO2- Kosten belastet, dazu.

Entwicklung des Strombedarfs und Stromtransport

Meine bisherigen Ausführungen basieren auf dem aktuellen Strombedarf der öffentlichen Versorgung von 550 bis 600 TWh/a, weil die Zusammenhänge dafür aufgrund vorhandener Daten und Grafiken am besten illustriert werden können. Im Rahmen der Sektorkopplung sollen innerhalb der nächsten beiden Jahrzehnte die Sektoren Mobilität, Wärme und die Produktion der Industrie auf Strom oder strombasierte Produkte wie synthetische Gase oder Kraft- / Rohstoffe umgestellt werden. Unter Berücksichtigung der Kopplung mit den Sektoren Mobilität und Wärme prognostiziert die Fraunhofer ISE Studie – eine von mehreren einander widersprechenden Studien – für 2045 einen Strombedarf von 1 580 TWh/a, wenn zu diesem Zeitpunkt Klimaneutralität erreicht werden soll. Davon sollen rd. 400 TWh/a auf die inländische Umwandlung in Wasserstoff sowie andere synthetische Energieträger (Power to Gas, Power to Liquid) entfallen. Dazu soll die Kapazität der elektrischen Leistung auf der Basis erneuerbarer Energien von heute 115 GW auf 746 GW, d. h. um den Faktor 6, ausgebaut werden. Dagegen dürfte die Höchstlast des deutschen Netzes von heute 80 GW auf etwa 200 GW steigen. Das Verhältnis von Strombedarf (1 580 TWh/a) zu installierter Leistung (746 GW) zeigt auch wieder auf, dass die Erzeugungsanlagen und die nachgeschalteten Anlagen wie beispielsweise die Elektrolyseanlagen eine für Industrieanlagen schlechte Auslastung von nur 24% haben, ein Indikator für hohe Festkosten. Die schlechte Auslastung ist der Volatilität der Stromerzeugung aus Windkraft und PV-Anlagen geschuldet.

Wegen der in Deutschland begrenzten regenerativen Ausbaumöglichkeiten geht die Fraunhofer ISE-Studie davon aus, dass etwa ab 2030 verstärkt Wasserstoff aus Ländern mit günstigeren klimatischen Verhältnissen zur Erzeugung von Wasserstoff importiert werden muss.

In der gewachsenen Struktur gibt es eine grobe Kongruenz zwischen Quellen (Kraftwerken) und Senken (Verbrauchern). Künftig soll der Strom von den Offshore-Windkraftanlagen und den windreichen, zu großen Teilen landwirtschaftlich strukturierten Gegenden im Norden zu den Verbrauchsschwerpunkten in der Mitte und im Süden Deutschlands transportiert werden. Dazu sind einige HGÜs (Stromautobahnen) im Bau. Die HGÜs haben eine lange Realisierungszeit (Südlink von 2013 bis voraussichtlich 2028) und verteuern die Transportkosten erheblich. In Verbindung mit der Stilllegung der süddeutschen Kernkraftwerke und Kohlekraftwerke gehen von der späten Südlink-Fertigstellung erhebliche Versorgungsrisken aus. Im Jahr 2045 soll die Offshore-Windkapazität nach der Fraunhofer ISE-Studie rd. 80 GW und die Onshore-Windkapazität knapp 200 GW, davon wohl auch ein größerer Teil im Norden Deutschlands. Mit diesen Transportaufgaben dürften die in Planung und Bau befindlichen Übertragungsleitungen überfordert sein. Die bisherigen Maßnahmen sind mit rd. 100 Mrd. € veranschlagt. Da muss wohl kräftig nachgelegt werden.

Die kürzlich von der Stiftung Klimaneutralität und Agora veröffentlichte Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ geht von erheblich geringeren Steigerungen des Strombedarfs aus. Die Eckdaten für 2045 sind: In Erneuerbaren installierte Leistung 608 GW, Nettostromproduktion 899 TWh.

Erst vor einigen Wochen wurde eine unter Federführung des DIW ausgearbeitete Studie herausgegeben, nach der der gesamte Strombedarf 2045 einschließlich der Herstellung von Wasserstoff aus heimischer Produktion, und zwar dezentral(!) gedeckt werden kann.
Es besteht erheblicher Diskussionsbedarf.

Energiekosten, hier Stromkosten

Weiter oben wurde bereits Einiges zur Strompreisentwicklung unter den Bedingungen des gegenwärtigen Marktdesigns gesagt. Hier soll nun ein Blick auf die Entwicklung der Systemkosten geworfen werden.

Zunächst zu den Stromerzeugungskosten: Von den Vertretern der Windkraft- und der Photovoltaik-Industrie wird behauptet, Windkraft und Photovoltaik seien heute schon konkurrenzlos billig. Mit dieser Aussage soll die Vervielfachung der Installation gerechtfertigt werden. Die Aussage ist eine sehr verkürzte und irreführende Darstellung. Sowohl für Privatkunden als auch für Industriekunden ist Strom aus Windkraft- oder PV-Anlagen kein marktfähiges Produkt, da er nicht bedarfs- bzw. zeitgerecht bereitgestellt werden kann. Er bedarf einer kostenträchtigen „Veredelung“ durch Regelenergie, Speicher und / oder Backup- Kraftwerke. Die mit der Vervielfachung der Kapazität einhergehende Kannibalisierung reduziert die Auslastung der festkostenlastigen Einzelanlagen und trägt somit zu einer weiteren Erhöhung der Stromerzeugungskosten bei. Besonders große Kostenrisiken ergeben sich in der wahrscheinlich längeren Übergangszeit aus dem Druck, schnell aus den Kernkraft- und Kohlekraftwerken auszusteigen. Man muss davon ausgehen, dass große Strommengen über mehrere Jahre in offenen Gasturbinen mit schlechtem Wirkungsgrad und entsprechend hohen Kosten produziert werden.

Zu den Übertragungskosten: Für die bisher geplanten und bereits in Arbeit befindlichen Umbaumaßnahmen werden bereits mehr als 100 Mrd. € veranschlagt. Nach den beiden o. a. Studien (Fraunhofer ISE und Stiftung Klimaneutralität / Agora) sollen bis 2045 zwischen 70 und 80 GW Offshore-Windkraft installiert werden. Abgesehen von den damit verbundenen Netzanschlusskosten werden auch an Land erhebliche Netzverstärkungen gegenüber den gerade erst gebauten und im Bau befindlichen HGÜs notwendig sein, um die Leistung vom verbrauchsarmen Norden in die Mitte und den Süden Deutschlands zu transportieren.

Die hohen Erzeugungskosten und die absehbar immens steigenden Kosten der Übertragungsnetze treffen die im internationalen Wettbewerb stehenden Unternehmen der Großindustrie und fördern Produktionsverlagerungen ins Ausland.

Auch in den Verteilnetzen dürften gewaltige und teure Umbaumaßnahmen erforderlich werden. Die Verteilnetze sind auf Ungleichzeitigkeit des Verbrauchs ausgelegt. Beispielsweise ist die Auslegungsleistung der Ortsnetztrafos in der Regel wesentlich geringer als die Summenleistung der Hausanschlüsse. In Zukunft soll möglichst jedes Dach mit einer PV- Anlage ausgestattet, die Gesamtleistung der PV-Anlagen gegenüber heute ungefähr versechsfacht werden. Damit wird in den Verteilnetzen mehr Strom erzeugt als verbraucht, und zwar mit ausgeprägten Leistungsspitzen und hoher Gleichzeitigkeit. Trotzdem wird die Notwendigkeit, die neue PV-Anlagen nur in Verbindung mit entsprechend bemessenenSpeichern zu fördern und Anreize zur Nachrüstung von dezentralen Speichern zu setzen, kontrovers diskutiert. Die hohen Kosten werden sich in den Netzentgelten niederschlagen.

Die privaten Haushalte sowie die mittelständische Wirtschaft sind von der Kostenentwicklung in allen drei Wertschöpfungsstufen betroffen.

Umweltschutz

Unter dem Druck der Straße (Fridays for Future) und des Urteils des Bundesverfassungsgerichts läuft die Politik Gefahr, in Aktionismus zu verfallen und mehr als bei gründlicher Planung notwendig Windkraft an Land auszubauen. Dies führt dazu, dass die Bereitschaft besonders der ländlichen Bevölkerung, den massiven Ausbau der Windkraft an Land, d.h. in ihrer Umgebung und in ihren Wäldern hinzunehmen, sich überwiegend in offene Ablehnung umkehrt.

Die Politik versucht, durch finanzielle Anreizsysteme sowie die Abwertung bisher hochgehaltener und rechtlich abgesicherter Schutzgüter wie Arten-, Natur-, Landschafts-, Denkmal- und Gesundheitsschutz den Durchmarsch des gewaltigen Aufbaus der Windkraft an Land zu erzwingen. Das Ergebnis ist eine tiefe Spaltung zwischen Stadt und Land. Hier wohnen vorwiegend die Verbraucher, die ihr Gewissen beruhigen und dort stehen die Erzeugerkapazitäten mit allen negativen Folgen für die Bevölkerung.

Die Anrufung der Gerichte ist oft genug letzte Zuflucht vor der drohenden Belastung bzw. Zerstörung ihrer Umgebung und dem Verlust des rechtlichen Schutzes wertvollster Güter.

Zusammenfassung und Handlungsempfehlungen

Unter dem Druck des Klimawandels will Deutschland die in mehr als 100 Jahren aufgebaute Energieinfrastruktur innerhalb von 24 Jahren komplett umbauen, ein Infrastrukturprojekt sondergleichen. Der Umbau betrifft alle Sektoren der Energiewirtschaft und die gesamte Wertschöpfungskette zumindest des Stromsektors. Mit der Stilllegung der 11 Kernkraftwerke in 2011, dem Beschluss zum vollständigen Ausstieg aus der Kernenergie bis Ende 2022, der alleinigen Ausrichtung auf volatile erneuerbare Energien, Versäumnissen in der Entwicklung und Errichtung der dazu gehörigen Speichermöglichkeiten und gleichzeitig kurzfristig verschärften Klimazielen für 2030 und 2045 hat Deutschland sich freiwillig in eine schwierige energie- und umweltpolitische Situation begeben. Zur Lösung des Problems liegen trotz des Zeitdrucks bisher nur einander widersprechende Studien vor. Gemeinsam ist diesen Studien die Errichtung der vielfachen Kapazität an Windkraft- und PV-Anlagen gemessen an der jeweiligen Netzhöchstlast. Das technische Konzept, auf das in den beiden nächsten Jahrzehnten hingearbeitet werden soll, besteht fast ausschließlich aus Bausteinen mit hohen Kapital- und geringen variablen Kosten. Es ist auch nicht erkennbar, dass nach dieser Zeit mit einem „goldenen Ende“ in Form geringerer Stromkosten gerechnet werden kann, da man bei vielen dieser Bausteine nur von einer technischen Nutzungsdauer von 20 Jahren ausgeht.

Der Ordnungsrahmen und das EU-Marktdesign sind nicht mit dem Umbauvorhaben kompatibel. Marktwirtschaftliche Lösungen sind bei den Widersprüchen zwischen dem EU- Markdesign und den zunehmend nach dem EEG in das Erzeugungsportfolio eingebrachten Bausteinen kaum möglich. Der politische und mediale Mainstream will schneller aus den ungeliebten Energien aussteigen als die Ersatzstrukturen wahrscheinlich einsatzbereit gestellt werden können.

Trotz des Zeitdrucks gibt es keine verabschiedete Bedarfsprognose, kein schlüssiges technisches Konzept, keinen definierten Kostenrahmen und keinen Rahmenterminplan mit Meilensteinen. Das allein politisch motivierte und nicht an den technischen Möglichkeiten orientierte unabgestimmte Stilllegen und der absehbar konzeptionslose und unkoordinierte Zubau von Einzelelementen werden das System unnötig teuer machen. Beispielsweise durch den Bau von Überkapazitäten, die sich gegenseitig kannibalisieren, statt von Speichern. Zumindest in der 10jährigen Übergangsphase muss mit überregionalen Stromausfällen gerechnet werden.

Mit den großen Risiken bezüglich der Versorgungssicherheit und den längerfristig absehbar deutlich höheren Stromerzeugungskosten als in anderen Industriestaaten sind wesentliche Voraussetzungen für den Erhalt der deutschen Industrielandschaft nicht mehr gegeben.

Als dringende Maßnahmen werden empfohlen:

  • Sicherheitstechnische Prüfung der Kernkraftwerke; bei positivem Ausgang mindestens Umkehrung der Ausstiegsreihenfolge von Kernenergie und Kohle, damit leichtere Erreichung der Zwischenziele, besser Weiterbetrieb bis zum Abschluss desTransformationsprozesses 2045
  • Aufbau einer kompetenten und verantwortlichen Projektorganisation aus Bundesnetzagentur und den Übertragungsnetzbetreibern; die Verantwortung ist primär den Unternehmen zu übertragen, die für die operative Umsetzung und die Gewährleistung der Versorgungssicherheit zuständig sind, sprich den Übertragungsnetzbetreibern, mit den folgenden Aufgaben:
  • Koordination von Stilllegungen und Ersatzbau zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit
  • Bewertung der divergierenden Studien technisch und wirtschaftlich
  • Erstellen einer Prognose zur Bedarfsentwicklung als Aufsatzpunkt für die Projektentwicklung
  • Erstellung eines technischen Rahmenkonzepts; Abstimmung des Baus von Windkraft- und PV-Anlagen an die Möglichkeiten der Netze unter Bewahrung der Grenzen der Belastbarkeit des ländlichen Raumes und besonders der Wälder in Bezug auf die oben genannten Schutzgüter, dazu Vermeidung von einander kannibalisierenden Überkapazitäten; keine Förderung neuer Anlagen ohne ausreichend bemessene Speicher
  • Definition des Kostenrahmens
  • Erstellung eines Rahmenterminplans mit Meilensteinen
  • Termin- und Kostenüberwachung
  • Anpassung des Marktdesigns; Beseitigung der Inkompatibilitäten von EEG und aktuellem (EU-) Ordnungsrahmen.

1) www.senior-energy-experts.de, 27.06.2021

2) Stationen seiner beruflichen Tätigkeiten u.a.

  • STEAG AG Essen: Kraftwerksplanung, Leiter Maschinentechnik
  • RWE EnergieAG Essen: Leiter Stromwirtschaft und Vertrieb Großkunden, Leiter Marketing, Vertrieb und Handel
  • RWE AG Essen: Leiter Multi-Utility-Center
  • RWE Plus AG/RWE Solutions AG Essen: Vorstandsmitglied Großkunden und Technologie
  • Technische Universität Darmstadt: Lehrbeauftragter Elektrizitätswirtschaft