Verbundnetz – Die Krise des europäischen Stromnetzes

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Ein neues Papier der Global Warming Policy Foundation [1] zeigt, dass das europäische Stromnetz auf eine Katastrophe zurast, wobei seine konstituierenden Nationen zuverlässige Kernkraftwerke und fossile Kraftwerke schließen und hoffen, dass das Verbundsystem das Defizit ausgleichen werde.

Das europäische Stromverbundnetz ist im Prinzip ein technisch hocheffizientes Wunderwerk. Ein engmaschiges Stromnetz aus Hoch- und Höchstspannungsleitungen zur Verteilung der elektrischen Energie. Es ist das größte synchrone Stromnetz der Welt. Es verbindet 520 Millionen Endverbraucher in 32 Ländern, darunter mehrere, die nicht der Europäischen Union angehören, wie Marokko und die Türkei. Im Jahr 2019 betrug der gesamte Nettostromverbrauch aller in diesem internationalen Netz angeschlossenen Verbraucher 2.635 Terawattstunden (TWh).

Schließt man die Länder mit ein, die nicht synchron zugeschaltet sind, aber eine Verbindung zum Netz haben, wie Großbritannien, Irland, die nordischen und baltischen Staaten, dann steigt der Gesamtverbrauch auf mehr als 3.300 TWh.

Um die Netzspannung und die Netzfrequenz (Toleranz von ±0,2 Hertz) in engen Grenzen konstant zu halten, muss das Stromangebot permanent, also für 8760 Stunden im Jahr, dem Stromverbrauch (“Last”, im Fachjargon) entsprechen, weil Strom weitgehend nicht gespeichert werden kann. Diese einfache Tatsache ist entscheidend für das Verständnis des Problems, das wir heute haben.

Um sicherzustellen, dass das Angebot der Nachfrage in ganz Europa entspricht, wird ständig die elektrische Last in Zeitblöcken von bis zu einer Länge von 15 Minuten prognostiziert. Tausende Stromgeneratoren decken den Strombedarf. Die Netzfrequenz ist das Schlüsselmaß für den Zustand des Netzes. Lokal gemessen, aber von überregionaler Bedeutung, ist sie der erste Indikator für ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Über- und Unterschreitung der Toleranzgrenzen würde zu Schäden an der Infrastruktur oder sogar zur vollständigen Abschaltung des Systems führen.

Frequenzabweichungen (Vorfälle) sind mit dem Bau und Ausbau von Windenergie- und Solaranlagen häufiger geworden. Erneuerbare Energien sind nicht disponierbar – ihre Leistung kann nicht von Minute zu Minute erhöht werden, um einen Versorgungsengpass zu beheben – daher sind sie aus Netzsicht unzuverlässig. Die Auswirkungen ihres weit verbreiteten Einsatzes werden durch die Tatsache deutlich, dass die Häufigkeit von Vorfällen von 33 Stunden im Jahr 2020 auf über 52 Stunden im Jahr 2021 gestiegen ist, was einem Anstieg von mehr als 50% in nur einem Jahr entspricht. Allein im Jahr 2021 gab es im europäischen Netz zwei große (“Scale 2”) Vorfälle, für die ein Expertengremium des Netzbetreibers Entso-e abschließende Erläuterungen erstellen musste.

Das zugrundeliegende Problem ist, dass das europäische Netz zunehmend nicht in der Lage ist, genügend Strom zu liefern, um den Bedarf zu decken. Die Abbildung zeigt das Problem: Die meisten Länder sind Netto-Stromimporteure, die sich auf Frankreich und Deutschland und in geringerem Maße auf die Tschechische Republik verlassen, um über die Runden zu kommen. Mit anderen Worten, die meisten europäischen Länder haben keine Verantwortung für ihre eigene Energiesicherheit übernommen.

Netto-Stromexport für einige ausgesuchte Länder

Insgesamt wurden 18 Länder betrachtet, wovon einige namentlich aufgeführt sind [1].

Einige Länder sind besonders problematisch [1].

  • Italien ist mit Abstand der schlimmste Schuldige, da es seine Kernkraftwerke in den 1990er Jahren geschlossen hat, nur wenige Onshore-Windparks und überhaupt keine Offshore-Windparks gebaut hat und daher jetzt fast vollständig auf Erdgas angewiesen ist, für das es keine zuverlässige Versorgung sichergestellt hat.
  • Österreich hat einen Mix aus Wasserkraft und Erdgas, verlässt sich aber darauf, dass Deutschland den Strommangel ausbalanciert. Es scheint, als wäre es der Führung des Landes entgangen, dass Deutschland seit 20 Jahren die Energiewende – einer Umstellung auf erneuerbare Energien und weg von Kernenergie und fossilen Brennstoffen – anstrebt.
  • Ungarn ist auf russische Erdgaslieferungen angewiesen, um sein Stromnetz zu betreiben.
  • Die Slowakei und Finnland haben es zumindest geschafft, neue Kernenergie in Betrieb zu nehmen, aber es war hart und teuer, und der Prozess muss noch abgeschlossen werden.
  • Die Niederländer sind auf Erdgas angewiesen und sitzen auf dem riesigen Groninger Gasfeld, haben aber beschlossen, die Produktion dort auslaufen zu lassen und sich der „Gnade“ der internationalen LNG-Märkte zu überlassen.

Insgesamt ist das europäische Kontinentalnetz, einst ein wichtiger Stromexporteur, jetzt auf Importe aus Norwegen, Schweden und dem Vereinigten Königreich angewiesen, um die Dinge am Laufen zu halten [1].

Im Moment ist diese Situation kaum zu bewältigen. Es gibt vier große kurzfristige Probleme und ein gigantisches strukturelles langfristiges Problem, die die politischen Entscheidungsträger auf dem ganzen Kontinent alarmieren sollten.

Ein kurzfristiges und hoffentlich zu bewältigendes Problem hat Frankreich. Frankreich als europäischer Spitzenreiter in der Kernenergie war bislang in der Lage, ca. 450 TWh pro Jahr zu liefern. Technische Probleme, Inspektionsarbeiten, zu geringe Kühlwassermenge und Brennstoffeinsparung zwangen zur Abschaltung von 32 Reaktoren.  Nur 59 % seiner Erzeugungskapazität stand in 2022 zur Verfügung, so dass Frankreich zum ersten Mal seit Jahrzehnten in jüngster Zeit zu einem Nettoimporteur von Strom wurde.

Gemäß Aussagen der französischen Regierung hat sich die Energieversorgerin Électricité de France (EDF) dazu verpflichtet, den gesamten Kernkraftwerkspark mit seinen 56 kommerziellen Kernreaktoren bis Mitte Februar 2023 wieder ans Netz zu bringen.

Das zweite große Problem sei durch Deutschland geschaffen worden [1]: Deutschland sei auf dem Wege, sich wegen Kernenergieausstieg und seiner Dekarbonisierungs-Politik in einen weiteren Nettoimporteur von Strom zu verwandeln, nachdem es seit langem einer der größten Stromexporteure Europas war. Dies wird ernsthafte Konsequenzen für alle Länder mit sich bringen, die derzeit auf Deutschlands Exporte angewiesen sind (Italien, Österreich und Luxemburg). Bezeichnend sei, dass „eingemottete“ Kohlekraftwerke eingesetzt werden müssten, um die Stromversorgung zu sichern.

Europa setzt auf Wasserkraft aus Norwegen und Schweden, um die Versorgungslücke zu schließen. Ein geringer Schneefall im letzten Winter hat zu niedrigen Stauseenstände geführt, so dass die norwegische Regierung erwogen hat, die Exporte zu begrenzen. Wenn sie dies tun, dann wird das europäische Netz nicht in der Lage sein, die Nachfrage zu decken.

Risiken für die europäische Energieversorgungssicherheit sieht Stahel [1] – infolge des Krieges in der Ukraine – ferner in der Synchronisation der ukrainischen Netze mit dem westeuropäischen Verbundsystem.

Das gigantische strukturelle langfristige Problem, das das Netz bedroht, sieht Stahel [1] in der Dekarbonisierungs-Politik, in der Verpflichtung, die Kohlenstoffdioxid-Emissionen drastisch zu reduzieren. Die Europäische Kommission hat diese Verpflichtung in gesetzliche Anforderungen umgesetzt, die Emissionen des Niveaus von 1990 um 55 % bis 2030 zu reduzieren. Das Ausmaß des gesellschaftlichen Wandels, den dies mit sich bringt, ist schwer zu verstehen.

Stahel [1] zieht das Fazit, dass Europa seine Klimaziele nicht erreichen wird. Die Energiewende ist um eine Größenordnung komplexer und im Prinzip nicht machbar. Das muss begriffen werden. Diejenigen, die ein Crash-Programm der Dekarbonisierung fordern und unterstützen, das wiederum auf falschen Behauptungen basiert, was mit Wind und Sonne erreicht werden könnte, haben uns in eine gefährliche Situation gebracht.

 

[1] Alexander Stahel, The crisis of the European energy system, <thegwpf.org>