Streitschrift wider die Unfehlbarkeit der Energiepäpste

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Gastautorin  Anna Veronika Wendland

Anstöße für Reformen kommen häufig von Peripherien – und sie werden oft von Grenzgängern formuliert. Als solche versteht sich auch die Autorin. Sie hat als Historikerin über längere Zeiträume in Kernkraftwerken in Osteuropa und in Deutschland gearbeitet. Grenzgänger machen Beobachtungen, die andere nicht machen. Dieser Essay ist aus einer vieldiskutierten Rede entstanden, die Wendland kürzlich auf dem 49. Kraftwerkstechnischen Kolloquium in Dresden vor Fachleuten aus Energiewirtschaft und Energietechnik gehalten hat. Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa-Historikerin am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg.

 

Die Macht der Peripherie

Der Osteuropa-Historiker Gottfried Schramm hat in seinem Buch über die Wegscheiden der Weltgeschichte die These aufgestellt, dass revolutionäre und reformatorische Bewegungen in der Regel nicht von den Zentren der politischen und geopolitischen Macht, sondern von den Peripherien ausgehen: nur hier sei das intellektuelle Ferment, der politische Freiraum vorhanden gewesen, damit Persönlichkeiten, die anderswo als Abenteurer und Spinner abgetan worden wären, ihre Ideen entwickeln und Anhänger um sich scharen konnten.

Schramm erläutert diese These unter anderem anhand der Ausbreitung des Christentums und an der Russischen Revolution, die sich in diesem Jahr zum hundertsten Male jährt. Aber auch die Reformation, deren fünfhundertsten Jahrestag wir kürzlich feierten, ging ursprünglich von einer Peripherie aus, wenn sie auch, von der Medienrevolution ihrer Zeit getragen, bald in die ökonomischen Zentren des Reichs vorstieß: Luthers Wittenberg war zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein Universitäts-Vorposten in der Germania slavica, in jenen historisch jungen Reichsländern, wo die Unterschichten weiter Landstriche noch „wendisch“, das heißt sorbisch sprachen und das Christentum weit ältere, gleichwohl noch lebendige naturreligiöse Vorstellungen überformt hatte.

In den letzten Wochen ist viel darüber diskutiert worden, ob diese Strukturgeschichte Ostdeutschlands mit den vernichtenden Stimmen-Einbußen der herrschenden CDU/CSU bei der Bundestagswahl zu tun haben könnte: Von der Halbzivilisation des Römischen Reiches deutscher Nation über das ökonomisch-strukturell ostmitteleuropäische Ostelbien und die sowjetisch-slavische DDR bis zum renitenten sächsischen AfD-Land? Fest steht, dass die vorgebliche Alternativlosigkeit bei gleichzeitiger Prinzipienlosigkeit, mit der unsere Kanzlerin seit einigen Jahren Politik macht, heute inner- und außerparteilich besonders von  Seiten der Peripherie herausgefordert wird, sei es die sächsische oder die bayerische.

Und das gilt offensichtlich nicht nur für die Migrationspolitik, die als Sicherheitsproblem während des Wahlkampfes in aller Munde war – das gilt genauso für ein Thema, das im Wahlkampf fast überhaupt keine Rolle spielte, nämlich unsere Energiepolitik und Energiesicherheit. Auch hier sind es vor allem die Bayern, die wie kein anderes Bundesland von Kernstrom abhängig sind, und die Braunkohle-Länder Sachsen und Brandenburg, in denen sich vermehrt Zweifel am „Weiter so“ in der Energiewende breit machen.

Doch ist letztere ein ungleich sperrigeres Thema. Denn während über Migration, kulturelle Identität und Religion schlechthin jeder glaubt, aus eigener Erfahrung mitreden zu können, sind Energiewirtschaft und Stromversorgung ein Gegenstand, für dessen Bewertung das Alltags- und Überlieferungswissen nicht ausreicht. Während Migration und Integration landauf, landab als akute Frage behandelt werden, hält man die Energiepolitik seit dem Atomausstieg für „gegessen“ und wägt sich in einer Scheinsicherheit.

Und daher ist das Risiko, das momentan von der  energiepolitischen Fehlsteuerung in Deutschland ausgeht, ungleich höher als jenes, das von der missglückten Einwanderungspolitik ausgeht. Denn während wir im Falle der Migrationspolitik inzwischen einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die Reformbedürftigkeit des gesamten Prozesses haben, steht diese Diskussion im Falle der Energieversorgung noch aus. Doch an den Peripherien ist sie längst im Gange.

Die derzeitige Lage

Die deutsche Energiewende ist eigentlich keine Energie-, sondern eine Stromwende, denn Deutschland betreibt sie vorwiegend im Stromsektor. Einer beständig steigenden installierten Leistung im Bereich der „Erneuerbaren Energien“  steht eine reale Ersetzung nuklear erzeugter gesicherter Leistung durch gesicherte Leistung aus Kohlekraft gegenüber. Der Grund dafür ist: regenerative Quellen gewährleisten nur eine sehr geringe gesicherte Leistung, und die Kernenergienutzung fällt seit 2011 de facto unter ein politisches Verbot, das stufenweise umgesetzt wird.

Unser Land erreicht daher seine CO2-Ausstoß-Ziele nicht, und es gehört weiter zu den Mega-Produzenten von Luftschadstoffen in der Energiewirtschaft. Ironischerweise sind es Kohle- und Kernkraftwerke im In- und Ausland, die während der gar nicht so seltenen Dunkelflauten, und tagtäglich angesichts volatiler regenerativer Stromproduktion die deutsche Netzfrequenz retten. Dabei retten sie die Ehre der  Erneuerbaren gleich mit.

Doch in Wirklichkeit wird die Zielarchitektur der Energiewende, bestehend aus Umweltverträglichkeit und Klimaschutz zum ersten, Versorgungssicherheit zum zweiten und Bezahlbarkeit des gesamten Unterfangens zum dritten, von den Regierenden selbst zerstört. Technische Experten, aber neuerdings auch die Finanzprüfer des Bundesrechnungshofes, kommen übereinstimmend zu der Schlussfolgerung, dass keines der selbstgesteckten drei Ziele mit der deutschen Energiepolitik in ihrer heutigen Gestalt erreicht werden kann.

Das liegt zum einen an nicht vorausgesehenen Entwicklungen, zum anderen an erwartbaren Prozessen. Nicht vorhergesagt wurde der Zusammenbruch des CO2-Zertifikatemarktes. Auch die allmählich zutage tretenden gewaltigen Umweltlasten der Erneuerbaren, die so gar nicht zu ihrem medial vermittelten sanften Image passen wollen, treten erst neuerdings zu Tage, nach wie vor sorgfältig umschifft von den meisten Politikern und den allermeisten Journalisten. Dasselbe gilt für die Energiewende als soziale Frage: dieses Unternehmen ist sozial gesehen eine gigantische Umverteilung von unten nach oben, in der Mieter und Kleinverdiener über ihre Stromrechnung die Minimal-Risiko-Investments von Haus- und Grundbesitzern sowie Investorengruppen absichern, und daneben auch den Lastenausgleich für energieintensive Industriezweige tragen.

Voraussehbar war aber etwas anderes: Die stark unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeit von Basistechnologien der Energiewende.  Denn während wir beispielsweise auf dem Gebiet der offshore-Windkraft in Bereiche vorstoßen, in der eine neue Systemkomponente nicht nur im Industriemaßstab funktioniert, sondern auch wirtschaftlich zufriedenstellend funktioniert, hinken wir im Bereich der Netz- und Speichertechnologien weit hinterher.

Wir reißen also gerade ein bewährtes System in atemberaubender Geschwindigkeit ab, ohne das neue System wirklich zum Funktionieren bringen zu können. Indes wird in fiebriger Hast die nächste Systemrevolution bereits angegangen: seit dem Diesel-Fukushima sind Sektorkopplung und die E-Mobilität auf der Tagesordnung, obwohl man nicht einmal in der herkömmlichen Elektrizitätswirtschaft seine Hausaufgaben erledigt hat. Da wir keine Speichertechnologie haben, ist der einzige Ausweg die Vorhaltung einer extrem teuren doppelten erneuerbar-konventionellen Infrastruktur, die neben der Stromwende in Zukunft auch die Verkehrs- und Wärmewende tragen soll.

Nicht von ungefähr halten die meisten unserer europäischen Nachbarn das deutsche Unterfangen angesichts dieser dysfunktionalen Verteilung von Verboten, Anreizen, Machbarkeiten und Zukunftsplanungen entweder für den Weltverbesserungs-Spleen einer Luxusgesellschaft, die es „sich leisten könne“, oder schlicht für verrückt.

Kognitive Dissonanz im Energiewende-Bunker

Gleichwohl ist das Vertrauen der Deutschen in regenerative Stromerzeugungsquellen nach wie vor unerschütterlich. Denn in den Umfragen wird die wirklich entscheidende Fragenie gestellt:

„Würden Sie auch Einbußen an Lebensstandard infolge unsicherer Stromversorgung als Preis der Energiewende akzeptieren?“

Auch wissen die wenigsten, wer eigentlich in einem Verbundnetz als stabilisierende Kraft aktiv ist, und wer die Regelenergie bereitstellt. Es scheint fast, als sei der Alltagsverstand einer Bevölkerung, die seit dem Atomausstieg an Energiefragen nur mäßig interessiert ist und in elektrotechnischen Fragen über nur spärliche Grundkenntnisse verfügt, mit einer solchen Frage bereits überfordert.  So entsteht die fatale Schlussfolgerung: „Die Windräder drehen sich und der Strom fließt. Die Energiewende scheint zu funktionieren.“

Dies wiederum ist die Grundlage für den parteienübergreifenden Konsens, auf den Atomausstieg auch den Kohleausstieg folgen zu lassen – ein selten deutliches Beispiel kognitiver Dissonanz. Denn unser Energiesystem ist nicht einfach nur im Umbruch – es läuft gegenwärtig Gefahr, infolge Versagens oder Nichtverfügbarkeit einiger wesentlicher Systemkomponenten in einen Zusammenbruch hineinzulaufen, weil elementare Systemgesetzlichkeiten aus politischen Gründen nicht beachtet werden. Melden sich doch einmal Zweifel, so werden sie von Energiewende-Promis wie der Ökonomin Claudia Kemfert, Potsdamer Klimaforschern und Berliner Politikern als  Obstruktion der Kohle- und Atomlobby abgewehrt.

Gleichzeitig erinnern Zukunftsbilder und normativ-ethischer Anspruch der Energiewende-Verfechter unter einer technikhistorischen Perspektive stark an die euphorische Frühzeit der Kernenergie-Prognosen in den 1950er und 1960er Jahren. Diese Euphorie wurde vor allem von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten getragen, aber keinesfalls von Ingenieuren und Praktikern der Energiewirtschaft: Unendlich viel Energie ist auch heute der thermodynamisch interessante Wahlspruch der Umfrage-produzierenden „Agentur für Erneuerbare Energien“.

Abgeordnete,  Minister und politische Beamte, die hinsichtlich ihres naturwissenschaftlich-technischen intellektuellen Rüstzeugs den ungefähren Durchschnitt unserer Bevölkerung abbilden, agieren in diesem Prozess als Verstärker: Sie machen optimistische Prognosen, zumeist ungeprüft, zur Wissensgrundlage eigener weitreichender politischer Entscheidungen, während Skeptiker viel zu selten gehört werden.

Was wir momentan beobachten können, ist ein Feedback-Kreis unhinterfragt und unwidersprochen zirkulierenden Energiewende-Wissens, häufig auch Pseudo-Wissens. Gemeinsam eingesperrt im Bunker dieses Feedback-Kreises, hoffen Regierende und Volk gemeinsam auf die Wunderwaffen der Energiewende, die Stromspeicher. Historische Parallelen sind an dieser Stelle ironisch, aber beabsichtigt.

Doch man sollte es sich nicht zu einfach machen und die Versäumnisse allein bei Politik und Wahlvolk suchen. Auch die deutsche Ingenieurszunft und die Energiewirtschaft haben sich weitgehend an das von der Politik ausgesprochene Skepsis- und Kritikverbot gehalten. „Die Energiewende MUSS gelingen“, wurde von oben dekretiert. Und die Standesvertretungen, Industrieverbände, Beratergremien halten sich daran, und garnieren ihre Publikationen und Sonntagsreden mit Gelingens-Floskeln und optimistischer Rhetorik, als ob die DDR noch lebte. Die Unternehmen taten, was Unternehmen in solchen Situationen immer tun: sie suchten sich neue Märkte. Und Ingenieure haben die Angewohnheit, jede Aufgabe als Ingenieursaufgabe zu sehen: ob nun den Bau eines Kernkraftwerks oder eines offshore-Windparks, ob den Rückbau oder die Endlagerung. Und so ging die Energiewende ihren Weg, mit Verlierern und Gewinnern. Doch die Jubelmeldungen über Windkraft- und Solarindustrieentwicklung kommentierten häufig nur eine Scheinblüte, die im eisigen Wind der asiatischen Konkurrenz rasch in sich zusammenfiel.

Nun ist mir als Historikerin der Sowjetunion – und auch als Historikerin der sowjetischen Kernenergiewirtschaft – dieser Stil der Zielfestsetzung glanzvoller Zukünfte und der Dekretierung von sagbaren und nicht-sagbaren Dingen durchaus vertraut. Die Frage ist, ob dieser Stil als Vorbild für die Entwicklung einer der zentralen technischen Infrastrukturen in einer demokratischen Industriegesellschaft taugt. Es stellt sich daneben die Frage, warum sich eigentlich fast alle, die dank ihrer Expertise etwas zu sagen hätten,  an das deutsche Tabu halten, demzufolge über Kernenergie nie wieder geredet werden dürfe.

Diskursmacht und Dolchstoßlegenden

Technikhistorisch gesprochen ist unsere Energiewirtschaft ein soziotechnisches System. Solche Systeme bestehen aus Menschen, Maschinen, Institutionen, Normen, Regelwerken und den Beziehungen zwischen ihnen.  Energietechnologie existiert in einem solchen System nicht abgekoppelt von der Politik und der Gesellschaft: sie wird nicht nur von Maschinenbauern produziert und von Energieversorgungs-Unternehmen betrieben,  sondern sie wird auch im politischen Prozess, in der gesellschaftlichen Kommunikation hergestellt.

In diesem Prozess ist Diskursmacht auch politische Macht. Wer sie besitzt, bestimmt, was in einer Gesellschaft sagbar ist, und was nicht sagbar ist. Und so ist die deutsche Kernenergiewirtschaft im Jahr 2011 auch nicht an konkreten technischen Mängeln ihrer Anlagen zugrunde gegangen, sondern an Diskursen: die kerntechnischen Spezialisten und Unternehmen konnten zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, vor dem Hintergrund der Tsunami-induzierten Reaktorunfälle von Fukushima, die Diskurshoheit über die Sicherheit und Zukunftsfähigkeit ihrer Anlagen nicht mehr behaupten.

Die deutschen Anlagen in ihrer konkreten Materialität spielten gar keine Rolle in dem Diskurs, der über ihr Schicksal entschied. In den deutschen Kernkraftwerken hätte aufgrund der sicherheitstechnischen Auslegung ihrer Notstrom- und Notspeisesysteme, dank ihrer Ausrüstung mit Wasserstoff-Rekombinatoren und gefilterter Druckentlastung der Fukushima-Unfallpfad auch im Falle einer Jahrtausend-Flutkatastrophe, auch im Falle einer Kernschmelze infolge Totalversagens der Notstromversorgung nicht stattfinden können.

Trotzdem hat Fukushima etliche technische Ertüchtigungsmaßnahmen zur Folge gehabt. Doch über die Reaktorsicherheits-Problematik, deren Bewertung erhebliches Vorwissen voraussetzt, wurde eigentlich gar nicht diskutiert. Die beherrschende Rolle spielte allein der politische Wille einer Bundesregierung, die ein kontroverses Thema mit dem Ziel der Gesellschaftsbefriedung ein für alle Mal abzuräumen gedachte. Dieser Wille bildete sich wiederum in Unterwerfung unter den seit langem kernenergiekritischen Diskurs in Deutschland.

Der in Birmingham lehrende Umwelthistoriker Frank Uekötter sagte jüngst auf einer Tagung, diese Schilderung sei die „Dolchstoßlegende der deutschen Atomwirtschaft“; in Wirklichkeit habe der Ausstiegsbeschluss eine Branche betroffen, die ökonomisch und technologisch längst vorher abgewirtschaftet hätte.

Ich habe ihm mit drei Argumenten widersprochen: erstens hätte auch eine glänzend aufgestellte Atomwirtschaft gegen den politischen Willen einer schwarzgelben Parlamentsmehrheit, die sich gemeinsam mit der Opposition in einer hoch emotionalisierten tagespolitischen Lage ohne lange juristisch-technische Folgenkalkulation auf die Seite der Anti-Atom-Bewegung schlägt, wenig ausrichten können.

Zweitens hatten die Energieversorger nach der Zusage der Laufzeitverlängerung im Jahr 2010 noch einmal massiv in die Modernisierung ihrer KKW investiert; Fukushima traf sie so gesehen nicht in einer Periode der Selbstauflösung, sondern in einer geplanten und geordneten Entwicklung.

Drittens zeigt das Beispiel anderer Länder, vor allem jenes der osteuropäischen Kernenergiewirtschaften nach Tschernobyl, dass eine Kernenergiewirtschaft offensichtlich auch schwerste Krisen überwinden kann, sofern der Staat als maßgeblicher Akteur in der Geschichte dieser Polit-Technologie seine Rolle nicht aufgibt, sondern sie behauptet. Diese Rolle hat hierzulande der deutsche Staat jüngst lediglich in der Endlagerfrage wieder übernommen, nicht aber in der Frage einer Kerntechnik der Zukunft, und auch nicht in der Frage der internationalen Reaktorsicherheit. Im Gegenteil: Deutschland hat sich willentlich aus diesen Gestaltungsfeldern verabschiedet.

Doch einen Dolchstoßlegenden-Vorwurf zurückzuweisen heißt noch nicht zu behaupten, die deutschen Kernkraftwerksbetreiber hätten alles richtig gemacht und seien von Merkel hinterrücks gemeuchelt worden. Fest steht, dass unsere Atomwirtschaft kaum etwas dafür getan hat, um ihre Diskursmacht zu behaupten. Sie blieb stets defensiv und hat es nicht vermocht, die Kernenergie als Antwort auf die Erfordernisse einer modernen Energiewirtschaft zwischen Umweltschutzbelangen, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit plausibel zu machen.

Die Atomwirtschaft hatte das Kommunizieren eingestellt

Sie hat das Kommunizieren in den 1990er Jahren bis auf einige ungelenke Werbeaktionen („ungeliebte Klimaschützer“) de facto eingestellt,  ihren Mitarbeitern Maulkörbe umgehängt, und sich darauf verlassen, dass die Politik es schon richten werde. Und was womöglich ihr gravierendster Fehler war: sie hat sich früh auf einen einzigen technologischen Pfad, das ausschließlich Strom produzierende nukleare Großkraftwerk, festgelegt. All dies schwächte ihre Position in der Krisensituation nach Fukushima erheblich.

Unsere Atomwirtschaft verfügte mit den KWU-Konvoi-Anlagen über technisch hoch ausgereifte und sicherheitstechnisch weltstandardbildende Kernkraftwerke – innerhalb der führenden (Druckwasser-)Reaktorgeneration der 1980er, der sogenannten Generation III.  Doch sie hat nicht in Reaktorkonzepte für die Nachfolge dieser Anlagen investiert, wie es beispielsweise in Russland oder China geschieht. Das ehemals deutsch-französische EPR-Reaktorprojekt, das einmal der nukleare Airbus werden sollte, droht heute an Überdimensionierung, Kostenexplosionen und Fertigungsmängeln zu scheitern – womöglich auch, weil die Deutschen sich schon vor langer Zeit aus dem Projekt verabschiedet haben.

Weiterentwicklung passiver Sicherheitssysteme, transparente Diskussion des Entsorgungs- und Proliferationsproblems, stadtnahe Kernreaktoren, die inhärent sicher sind,  neben Strom auch Prozess- und Fernwärme bereitstellen und Radionuklide für Medizin und Industrie herstellen können? Diese Themen waren allenfalls das Betätigungsgebiet genialer Köpfe an der Peripherie, wie dem Erfinder des Thorium-Hochtemperaturreaktors und energiepolitischen Visionärs Rudolf Schulten, dessen Idee in Hamm-Uentrop nur teilverwirklicht wurde und nun in China eine Renaissance erlebt.

Heute forscht eine kleine Berliner Physikertruppe im Institut für Festkörper-Kernphysik am Dual Fluid Reactor und wäre 2013 als Favorit des Publikums beinahe in die Endrunde des GreenTec Award gelangt – wenn die Organisatoren dies nicht durch Ändern der Spielregeln während des Wettbewerbs verhindert hätten. Merke: „grün“ und „Kerntechnik“ zusammenzudenken, ist hierzulande verboten.

Ein solches Zusammendenken hätte die Atomindustrie womöglich weiterbringen können, doch angesichts der enormen Herausforderung durch die Anti-Atom-Bewegung hatte man letztlich kein Konzept – weder ein technisches, noch ein kommunikatives. Man wurschtelte sich, durchaus nicht ingenieursmäßig, durch. Man igelte sich hinter Zäunen, Wassergräben und Polizeikordons ein, um sich die – wenn auch häufig bis zur Lächerlichkeit unsachliche – Kritik vom Leibe zu halten. Man verdiente gut in den fetten Jahren, doch man verwendete wenig Gedanken an die Entsorgung, welche sich, allen an sich beherrschbaren Lagertechnologien zum Trotz, als diskursive Zeitbombe herausstellte.

Man investierte jenseits der Infozentren an den Standorten nie in eine lebendige nukleare Wissenswelt, nie in einen über die eigene technische Disziplin hinausgreifenden sachlich-kritischen Dialog mit Journalisten, Schulen, Universitäten. Man investierte auch nie in Diskussionen über die kulturelle Bedeutung der Kerntechnik, etwa durch Einbindung von Künstlern oder Kulturwissenschaftlern. Es gab solche Überlegungen durchaus und es gibt eine Reihe von Publikationen, welche dies belegen. Doch diese einzelnen Funken, die man aus internen Diskussionen schlug, haben nie ein Feuer entfacht.

Denn Selbstkritik im öffentlichen Raum oder kritisches Hinausdenken über die existierenden Anlagen hinaus war unter den Bedingungen einer Angst-Mobilisierung gegen jedwede Kerntechnik praktisch Selbstmord. Das haben mir Insider der Industrie und Gutachter im persönlichen Gespräch immer wieder bestätigt. Der vierzigjährige deutsche Atom-Krieg hat Fronten gebildet, zwischen denen man nur umkommen konnte. Grenzgänger, intellektuelle Ingenieursköpfe, Kritiker von Missständen wie der politisch links stehende Schnellreaktor-Projektmanager Klaus Traube, der fälschlich unter RAF-Sympathie-Verdacht geriet und abgehört wurde, mussten daher im Grunde scheitern: als Verräter ausgestoßen von der eigenen Gemeinschaft; missverstanden, zwangseingemeindet, zum Kronzeugen gemacht von der Gegenseite.

Ethische Fragen im energetischen Strukturwandel

Die Stromwende made in Germany hat eine historische Erfahrung der Elektrifizierungsgeschichte nicht beherzigt. Diese besagt: nicht jede technisch bestechende oder politisch wünschenswerte Idee hat sich am Ende auch durchgesetzt. Denn sie muss sich auch als Baustein eines (groß-)technischen Systems bewähren, Abnehmer zufriedenstellen, Investoren anlocken, Standards bilden und Kosten senken. Gelingt es nicht, privates Kapital für den Umbau eines großtechnischen Systems zu mobilisieren, dann muss, wie geschehen, der Staat einspringen, genauer gesagt: wir alle.

Lässt sich die Kostenfrage nicht mehr mit „Kugeln Eis“ verniedlichen, verlagern die Entscheider ihre Argumentation gerne auf fachfremde Gebiete. Zum Beispiel auf das Gebiet der Ethik. Daher hören wir, kommt es doch mal zu Zweifeln, sehr viel von der globalen „Verantwortung“ Deutschlands, für die uns nichts zu teuer sein dürfe.

Wie konnte es dazu kommen? Für politische, soziale und technische Systeme gilt im Prinzip das Gleiche: Soll angesichts neuer Herausforderungen ein strategischer Strukturwandel gelingen, müssen die Ziele klar definiert sein. Wege zur Erreichung dieser Ziele gibt es meistens mehrere, und in offenen Gesellschaften und Denkkollektiven ist Kontroverse über die Mittel und Wege nicht nur Normalität, sondern auch Notwendigkeit, um sowohl machbare als auch gesellschaftlich akzeptierte Lösungen zu erreichen. Soll ein solcher Prozess von Erfolg gekrönt sein, brauchen die Entscheider keine Ja-Sager, sondern sachlich-kritische Expertise, welche Risiken und Schwachstellen erkennt und Lösungswege aufzeigt. Gute Entscheider kaufen sich daher Gegenexpertise ein, um vor versteckten Fallen in einem Planungsprozess gewarnt zu sein.

Diese institutionellen Nein-Sager hat es zu den entscheidenden Zeitpunkten im deutschen Energiewende-Prozess nie gegeben: weder wurden Kosten, technischer Aufwand und Versorgungsrisiken konsequent, transparent und unter Beteiligung der Öffentlichkeit durchgerechnet, noch hat man unterschiedliche technologische Pfade zum Erreichen von Klimazielen sorgfältig und technologieneutral evaluiert, etwa in einer Enquete-Kommission. Der Grund für diese Entwicklung liegt in der spezifisch deutschen Einbettung einer Technologie-Diskussion in die oben skizzierte gesellschaftliche Kontroverse: die jahrzehntelange Atomkontroverse, welche viele der heute aktiven Politikerinnen und Politiker lebensgeschichtlich prägte.

Im Zuge dieser Kontroverse hat die anti-nukleare Position keineswegs nur als gesinnungsethische, sondern auch als verantwortungsethische Position seit dem Unfall von Tschernobyl 1986 die Diskurshoheit in Medien und Politik erobert.  Die ursprünglich marginalisierte Programmatik der außerparlamentarischen Bewegungen und ihr – aus technischer Sicht unsinniges – Verlangen nach „100 Prozent Sicherheit“ – wurde zum breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens.

Dieser Konsens sorgte dafür, Energiepolitik auf Kernenergieausstieg und Umbau der Stromversorgung zu verengen. Als Beschleuniger dieser bereits seit Mitte der 1980er Jahre angelegten Entwicklung wirkte 2011 die spontane, ebenfalls spezifisch deutsche Endzeit-Stimmung nach Fukushima.

Ganz folgerichtig wurde nun über die Kernenergienutzung ausschließlich als ethische Frage entschieden, nicht als energiepolitische oder gar elektro- oder verfahrenstechnische: nicht eine Enquete-Kommission wurde einberufen, in die auch Ethik-Experten hätten eingebunden werden können, sondern eine Ethikkommission, aus der die technische, ganz besonders aber die kerntechnische Expertise weitgehend ausgeschlossen wurde. Interessant ist daran, dass die Frage nach der ethischen Verantwortbarkeit eines Ausstiegs aus der Kernenergienutzung in dieser Ethikkommission erst gar nicht gestellt werden durfte.

Aus genau diesem Grunde wurden unterschiedliche Stromerzeugungssysteme im Vergleich gar nicht auf ihre Verantwortbarkeit hin befragt. Denn die Kernenergie-Gegnerschaft ist in Deutschland zu einem öffentlichen Bekenntnis geworden, das Züge einer Zivilreligion trägt und zumindest in unseren Medien überhaupt nicht mehr hinterfragt wird. Wer dieses Tabu antastet, bekommt sehr schnell ein Problem: er wird mindestens des Rechtspopulismus bezichtigt, häufig auch der Menschenverachtung – und zwar für Positionen, die außerhalb Deutschlands, z.B. in Großbritannien oder den USA, ganz selbstverständlich von Linken und grünen Ökomodernisten vertreten werden.

Zehn Thesen für eine energetische Reformation

So ist die Lage. Muss sie so bleiben? Meine Behauptung ist: Nein. Menschen lernen aus Erfahrung – doch würde ich mir wünschen, dass die Deutschen aus ihren energiepolitischen Fehlern lernen könnten, bevor sie der Zivilisationszerfall infolge eines mehrtägigen Großraum-Blackouts Mores lehrt.

Wenn wir davon ausgehen, dass Diskurse und die ihnen unterliegenden Wissensbestände zu politischen Entscheidungen maßgeblich beitragen, dann kann man auch falsche Entscheidungen revidieren, indem man die Ordnung des Sagbaren herausfordert. Diskurse unterliegen, wie die gesamte Welt des Sozialen, historischem Wandel. Sie sind weder gottgegeben noch alternativlos, und sie sind prinzipiell diskutierbar und revidierbar – und gegebene Zustände sind reformierbar.

Um eine energetische Reformation ins Werk zu setzen, müsste man sich über einige Sachverhalte verständigen. Ich habe sie in zehn Thesen formuliert:

1. Wenn wir ein Industrieland heutigen Zuschnitts bleiben möchten, das heißt nicht auf eine konsequente Verzichtsökonomie und auf eine drastische Relokalisierung unserer Verbrauchs- und Mobilitätsgewohnheiten hinauswollen, ist dieses Land nicht, wie politisch gewollt, zu 80-100 Prozent mit regenerativem Strom zu versorgen.

2. Wollten wir dieses Ziel erreichen, aber auf eine Umerziehung und Enteignung unserer Bevölkerung von sowjetischen Ausmaßen verzichten, dann müssten wir für unsere Stromerzeugung eine doppelte, nämlich erneuerbar-konventionelle, Infrastruktur vorhalten, um die Mängel der Erneuerbaren im Bereich der Gesicherten Leistung auszugleichen.

3. Lösungsvorschläge wie Speichertechnologien und smart grids stellen uns vor ein doppeltes Problem: beide sind heute nicht vorhanden und werden auch zu den anvisierten Kohleausstiegsdaten nicht in ausreichendem Maße vorhanden sein. Beide einzuführen, bedeutet einen immensen Finanzierungsbedarf, gegen den die gegenwärtig rund 30 Milliarden Euro jährlicher Energiewende-Aufwendungen zwergenhaft anmuten werden. Darüber hinaus haben wir heute noch gar nicht voll erfasste Probleme der Cybersecurity zu gewärtigen, die uns mindestens genauso beschäftigen werden wie heute die IT-Sicherheit in der Kerntechnik und anderen verwundbaren Infrastrukturen.

4. In der jetzigen Energie-Zielarchitektur werden Mittel mit Zielen vertauscht: Kernenergieausstieg und Erneuerbaren-Etablierung wurden zum Selbstzweck erklärt, während eigentlich Kernenergie und regenerative Quellen komplementäre Technologien in einer umweltverträglichen Stromwirtschaft, später in einer erweiterten Energiewirtschaft mit geschlossenen nuklearen und kohlenwasserstoffbasierten Stoffkreisläufen sein könnten.

5. Die energiepolitische Zielarchitektur sollte daher technologieneutral umgebaut werden: Der Staat sollte lediglich Etappenziele, aber nicht die Mittel zu deren Erreichung vorgeben.

6. Technologieneutralität bedeutet: Umfängliche, deliberative, inklusive Diskussion aller denkbaren Pfade zur Zielerreichung. Ein mögliches Instrument wäre die Einrichtung einer Enquete-Kommission durch das Parlament.

7. Deliberative, inklusive Pfaddiskussion bedeutet: das Sprechverbot über Kernenergie und Kernforschung muss unterlaufen und aufgehoben werden.

8. Sprechverbot über Kerntechnik aufheben bedeutet: Die Evaluierung von Möglichkeiten einer akzeptanzfähigen Kernenergie der Zukunft muss wieder erlaubt sein und darf vom Staat nicht behindert werden.

9. Voraussetzung für eine deliberative, inklusive Pfaddiskussion unter Einschluss der Kerntechnik ist eine Erneuerung unserer Wissensbestände. Das in der Gesellschaft derzeit vorhandene Energiewissen ist mit dem Stand des religiösen Basiswissens vor der Reformation vergleichbar: Die meisten Deutschen glauben, trotz aufkommender Zweifel,an die Unfehlbarkeit ihrer Energie-Päpste. Sie zahlen den Sündenablass mit der Stromrechnung, und sie können die Messliturgie der Energiewende mitbeten. Aber sie können die Bibel nicht lesen.

10. Folglich brauchen wir eine energetische Alphabetisierung – und eine energetische Bibelübersetzung. Beides verlangt nach Wissensträgern aus den Natur- und Technik-, aber auch den Geisteswissenschaften, die sich mit vernehmbarer und verständlicher Stimme in die Diskussion einschalten, als Grenzüberschreiter und Vermittler arbeiten. Energy literacy und nuclear literacy müssen in unseren Schulen, Universitäten, Medien und der Zivilgesellschaft mit Denkkartellen, Halbbildung und Pseudowissen über radioaktive Strahlung und Kerntechnik aufräumen – aber auch das nur lückenhafte Wissen über die tatsächlichen Potenziale der Erneuerbaren aufstocken.

Erst dann wäre jener soziale und kommunikative Kontext gegeben, in dem auch die Kernenergie in unserem Land wieder „sagbar“ wäre. Erst dann könnte man auch wieder über eine Änderung geltender Gesetzgebung und eine zielgerichtete Förderung der Kernforschung nachdenken. Erst dann könnte man ein komplementäres Energiesystem aufbauen, das den Anforderungen des Umweltschutzes genauso genügt wie jenen der Bezahlbarkeit und der Versorgungssicherheit.

Das Geschäft der Historiker ist die Vergangenheit, nicht die Zukunft. Ich habe versucht, den deutschen – und meiner Meinung nach zum Scheitern verurteilten – deutschen Energiewende-Sonderweg (technik-)historisch zu erklären. Ich möchte aber auf Grundlage historischer Erfahrung auch eine Prognose wagen: Wagen wir keine Reformation unserer Energiepolitik, dann wird die kommende Generation mit dem Scheitern einer in ihrer jetzigen Form technisch defizitären und sozial, ökologisch wie ökonomisch unverantwortlichen Energiewende konfrontiert sein. Dann wird, mit großer Verspätung und nach Vergeudung ungeheurer finanzieller, aber auch naturräumlicher, emotionaler und sozialer Ressourcen, der gesamte Komplex ohnehin wieder auf den Verhandlungstisch kommen. Wir könnten diesen Weg  abkürzen.