„Ausstieg aus der Kernkraft ist ein historischer Fehler“

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 Der Chef der Internationalen Energieagentur Fatih Birol gab dem Handelsblatt am 23. Januar 2024 ein Interview, aus dem wir bemerkenswerte Aussagen von ihm zitieren.

Angesprochen auf die deutsche Energiewende und den Ausstieg aus der Kernenergie habe der sonst so besonnene IEA-Chef jegliche Zurückhaltung aufgegeben und deutlich zum Ausdruck gebracht, wie wenig Verständnis er für den deutschen Sonderweg hat:

„Der Ausstieg aus der Kernenergie war ein historischer Fehler. Ich respektiere die Entscheidung, aber sie hat negative Auswirkungen auf das Stromangebot und die Möglichkeiten, die Emissionen zu verringern. Deutschland hätte wenigstens die noch verbliebenen AKW am Netz lassen können. Aber dafür ist es wohl jetzt zu spät.“

„Fakt ist: Wir erleben auf der ganzen Welt ein Comeback der Kernkraft. Vor zwei Jahren habe ich das hier in Davos vorhergesagt. Es ist so gekommen: in China, Indien, den Niederlanden, Schweden, Frankreich, Kanada, den USA und selbst in Japan. Wenn wir das globale Energiesystem betrachten, sehen wir, dass die Erneuerbaren einen Großteil ausmachen – aber die Nuklearenergie kommt wieder zurück.“ Den deutschen Ausstieg rückgängig zu machen, erachtet er als schwierig.

„Wenn ich mich (infolge des Kohleausstiegs) entscheiden müsste zwischen dem Bau neuer Gaskraftwerke und der Möglichkeit, bereits bestehende Kernkraftwerke am Netz zu halten, würde ich mich für Kernkraftwerke entscheiden. Was die Kohlekraftwerke angeht: Ich sehe kein Problem, wenn die Kohlekraftwerke keinen Strom mehr produzieren, solange sie zur Absicherung trotzdem in Reserve gehalten werden.“

Die Frage nach der Wasserstoffstrategie beantwortet Birol eher skeptisch:

„Ja, alle finden Wasserstoff gut, vor allem grünen Wasserstoff, der also mit Ökostrom produziert wurde. Die Regierungen versuchen, Deals zu machen, mit afrikanischen Ländern zum Beispiel. Ich frage dann immer, wie viele dieser grünen Wasserstoffprojekte eigentlich bis 2030 fertig werden.

Fest steht: Nur sieben Prozent der weltweiten Wasserstoffprojekte werden bis 2030 abgeschlossen sein. Die Kosten werden sehr hoch sein. Und es ist noch völlig unklar, wer den Wasserstoff nachfragen wird.

Wasserstoff wird definitiv wichtiger werden, aber wir müssen dafür auch erst eine Nachfrage kreieren, um die Kosten zu reduzieren. Die aktuell überzogenen Erwartungen könnten davon ablenken, dass es davor wichtigere Probleme zu lösen gibt.“

Angesprochen auf die Gas-Situation, äußerte Birol:

„Ich denke, wir haben noch zwei schwierige Jahre vor uns. Dann erwarte ich eine Phase fallender Gaspreise. Denn dann wird es ein großes Angebot an Flüssiggas geben, weil viele Projekte fertiggestellt sind. Ja, das war ein historischer Fehler, für den Bevölkerung und Wirtschaft jetzt einen hohen Preis zu zahlen haben. Die Energiepreise sind in Europa immer noch sehr hoch – im Vergleich zu China oder den USA. Für die Industrie ist das ein klarer Wettbewerbsnachteil.“

Dass Deutschland im Rahmen der Energiewende den Ausbau der Wind- und Solarenergie vorantreibt und die Genehmigungsverfahren verkürzt, sieht Birol als „gut und wichtig“ an. „Aber Deutschland hat noch einen langen Weg vor sich: Das Energiesystem ist kein Fahrrad, sondern wie ein großer Tanker auf hoher See. Es braucht Zeit, die Richtung zu ändern – und es wird nicht ohne Folgen bleiben.“