Nukleartrend in Brüssel

In Brüssel mehren sich die Stimmen, die Kernenergie als verlässliche, CO-arme und heimische Energiequelle wieder stärker ins Zentrum der Diskussion rücken. Jessica Johnson, Director of Communications & Advocacy, und Andrei Goicea, Policy Director beim europäischen Industrieverband Nucleareurope, sprechen im Interview mit dem Nuklearforum Schweiz über die politische Stimmungslage, regulatorische Hürden, die Bedeutung technologischer Innovationen und die Notwendigkeit eines industriepolitischen Umdenkens [1].

Ein Auszug aus diesem Interview:

Wie wird die Kernenergie derzeit allgemein in der europäischen Energiepolitik wahrgenommen?

Jessica Johnson: In der Vergangenheit wurde die europäische Energiepolitik von einer klaren Präferenz für erneuerbare Energien bestimmt – insbesondere Wind und Solar. Kernenergie wurde häufig ausgeklammert oder sogar explizit ausgeschlossen. Doch wir beobachten seit etwa zwei Jahren eine stetige, wenn auch langsame Verschiebung. Der kürzlich veröffentlichte «Clean Industrial Deal» der EU-Kommission steht exemplarisch für diesen Wandel: Er ist deutlich technologieoffener formuliert als frühere Strategiepapiere. Die politische Realität spiegelt sich darin wider, dass immer mehr Mitgliedstaaten, darunter Schweden, Rumänien und Griechenland, ihre Haltung zur Kernenergie überdenken oder bereits deutlich geändert haben. Selbst in Dänemark, welches traditionell sehr kritisch war, findet inzwischen eine offene Diskussion statt. Deutschland und Österreich bleiben isoliert in ihrer ablehnenden Haltung – das verändert das Kräfteverhältnis auf europäischer Ebene deutlich.

Wie sehen Sie die aktuelle Argumentationslage in der politischen und gesellschaftlichen Debatte zur Kernenergie?

Jessica Johnson: Die traditionellen Kritikpunkte – Sicherheit und Endlagerung – verlieren an Gewicht. Es gibt heute robuste, wissenschaftlich fundierte Lösungen für beide Themen. Das wird auch in Brüssel wahrgenommen. Die verbleibenden Kritikpunkte drehen sich vor allem um die Kosten und Bauzeiten neuer Projekte. Ja, die letzten Großprojekte in Europa und den USA waren teurer und langsamer als geplant. Doch wir müssen diese Debatte differenzieren: Viele dieser Projekte litten unter politischer Unsicherheit, unterbrochenen Lieferketten, fehlendem Know-how und regulatorischen Hürden. Wenn wir stabile Rahmenbedingungen schaffen, können wir auch diese Probleme in den Griff bekommen.

Andrei Goicea: Hinzu kommt: Die reine Betrachtung der Investitionskosten greift zu kurz. Ein Reaktor, der über 60 oder 80 Jahre hinweg zuverlässig Energie liefert, mit einem Kapazitätsfaktor von über 90%, ist wirtschaftlich sehr attraktiv – besonders im Vergleich zu erneuerbaren Energien, bei denen hohe Systemkosten und Speicherlösungen zusätzlich einkalkuliert werden müssen.

Jessica Johnson: Auch innerhalb der Branche der Erneuerbaren gibt es ein Umdenken. Während Teile der Solarindustrie Kernenergie weiterhin ablehnen, wächst in der Windenergiebranche das Verständnis dafür, dass beide Technologien sich ergänzen können – insbesondere mit Blick auf Energiesouveränität und Versorgungssicherheit.

Wie schätzen Sie die Perspektiven für neue Reaktortechnologien, insbesondere SMRs, in Europa ein?

Andrei Goicea: Die Entwicklung von Small Modular Reactors (SMRs) ist zweifellos eines der spannendsten Felder derzeit. Sie bieten viele Vorteile: standardisierte Fertigung, kürzere Genehmigungszeiten, geringere Kapitalkosten pro Einheit. Allerdings sind wir in Europa noch nicht so weit wie etwa Kanada oder die USA. Es gibt erste Auslegungen, Pilotprojekte und vielversprechende Start-ups. Entscheidend wird sein, dass die regulatorischen Behörden mit dem technologischen Fortschritt Schritt halten und Genehmigungsverfahren effizient gestalten.

Jessica Johnson: Gleichzeitig müssen wir die Erwartungen realistisch halten. Viele SMR-Projekte befinden sich noch in einer frühen Entwicklungsphase. Kostenschätzungen variieren stark. Erst wenn erste Anlagen gebaut und betrieben werden, können wir belastbare Aussagen treffen. Auch der Aufbau von Lieferketten und Fachpersonal ist eine Herausforderung, die nicht unterschätzt werden darf. Dennoch ist das Potenzial enorm – gerade für industrielle Anwendungen oder entlegene Standorte.

 

[1] https://cms.nuklearforum.ch/sites/default/files/2025-07/Bulletin-2-2025_D_0.pdf