Globalisierung der Gefühle. Wie die Massenmedien die Weltgesellschaft konstruieren

Worum geht es? Zwei Kernsätze aus einem unverändert aktuellen Aufsatz aus dem Jahr 2005, die Lust auf mehr machen:

Das Zeitalter der Massenmedien ist das Zeitalter des Entrüstungspessimismus und der Angstrhetorik. In der Welt der Warner und Mahner wird die Apokalypse zur Ware.

In der Mediendemokratie werden politische Probleme nicht durchdacht, sondern gefühlt. Das erreicht man am einfachsten durch die Moralisierung eines Problems. Sie ermöglicht auch denen, die von der Sache nichts verstehen, an der Diskussion teilzunehmen. Moralisierung ist also eine Serviceleistung für Inkompetente.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors Prof. Dr. Norbert Bolz

Prof. Dr. Bolz ist ein deutscher Medien-und Kommunikationstheoretiker sowie Designwissenschaftler. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2018 lehrte er als Professor für Medienwissenschaften an der TU Berlin.

Von Globalisierung oder Weltgesellschaft kann man sinnvoll reden, seit es die elektronischen Massenmedien gibt. Sie synchronisieren die Eigenzeit mit der Weltzeit. So macht uns das Fernsehen zu Zuschauern der Prime-Time-Aktivisten, zum Beispiel der Terroristen, die unsere Zukunft als Drohung verkörpern. Hier wird für jeden sichtbar, dass die Zukunft immer mehr die gemeinsame aller Menschen ist – und genau das meint der Begriff Weltgesellschaft.

Das Fernsehen zeigt uns deutlicher als alle anderen Medien, dass Menschen unbeobachtet beobachten wollen, wie andere beobachten. Indem die Medien diesen Wunsch erfüllen, dienen sie der Sozialisation – und zwar der Sozialisation von Erwachsenen! Massenmedien bieten jedem Identitätssucher Kriterien für die Selbstbewertung und zeigen jedem Geschmacksunsicheren die Standards des Weltgeschmacks. Wenn man diese Befunde etwas höher abstrahiert, kann man sagen: Die Massenmedien ersetzen die Mythen als Welthorizont. Die Welt ist alles, was der Fall ist – und das erfährt man aus den Medien. Deshalb sollte man eigentlich nicht sagen „Das hab‘ ich im Fernsehen gesehen“, sondern: Das habe ich durch das Fernsehen gesehen.

Was wir derart zu sehen bekommen, ist die Welt als Skandal und Katastrophe. Und wir sind auch als Unbetroffene betroffen – nicht nur, weil eine universalistische Moral uns für alles verantwortlich macht, was auf dem Erdball geschieht, sondern auch deshalb, weil uns die fernen Bilder des heutigen Schreckens auf die gemeinsame Zukunft aller Menschen in der Weltgesellschaft stoßen. Was gestern bei Enron geschah, wäre morgen auch in Deutschlands Chefetagen möglich; der Terror in der russischen Schule könnte sich morgen in Wedding wiederholen. So bildet sich weltweit eine Ökumene der Fernsehzuschauer.

Massenmedien sind auf Katastrophen abonniert. Ökologische Katastrophen sind besonders medientauglich, denn die ganze Welt, alle sind betroffen, Folgelasten technischer Innovationen fallen ständig an, und die Massenmedien können in solchen Fällen fest mit einer politischen Dauerkontroverse rechnen, weil es keinen master plan gibt.

Die Massenmedien erzeugen also nicht Umweltbewusstsein qua Komplexitätsbewusstsein, sondern verstellen es durch das Bild der Katastrophe als Negativ des Kosmos. Mit anderen Worten: Die Welt der Massenmedien ist nicht komplex, sondern schlecht. Deshalb können sie die Zuschauer nur indirekt orientieren. Der Negativismus der Weltnachrichten konfirmiert, was wir alle alles nicht wollen. In der modernen Gesellschaft lassen sich gemeinsame Werte offenbar nur noch in einem Negativbericht anschreiben. Doch das scheint den Zuschauern zu genügen. Massenmedien zeigen, was man nicht ist. Auch diesen Dienst am Kunden kann das Fernsehen besser als andere Medien verdeutlichen. Wer fernsieht, ist durch den Bildschirm doppelt abgeschirmt: gegen die bedrohliche Welt und gegen die soziale Umwelt.

Wenn das zutrifft, spricht nicht sehr viel dafür, dass die Menschen Massenmedien nutzen, um sich über die Welt zu „informieren“. Zum einen neigt die Welt selbst zur Desinformation – Stichwort Entropie. Neuigkeiten destabilisieren, stellen unsere Aufgeregtheit und Unsicherheit auf Dauer und zwingen uns eine Tagesschau auf, die nur noch konsistent in ihrer Inkonsistenz ist. Zum andern können Zuschauer beim Fernsehen typischerweise nicht zwischen Information und Mitteilung unterscheiden. Statt Informationen zu verarbeiten, nimmt man Neuigkeiten hin; und je größer die Informationsflut, desto unvermeidlicher die gedankenlose Willfährigkeit.

Massenmedien wirken also vor allem deshalb, weil niemand Zeit hat, die Nachrichten zu überprüfen. Statt Informationen zur Weiterverarbeitung vorzulegen, funktionieren sie als reinforcement schedules im Sinne Skinners. Indem sie uns mit Glaubens- und Wunschformeln versorgen, absorbieren die Massenmedien Unsicherheit und produzieren dadurch (!) Fakten, Fakten, Fakten. So entsteht für den Zuschauer eine Welt der vereinfachten Kausalzurechnungen. Handlungen und Akteure werden bevorzugt – ob grüne Außenpolitiker, Greenpeace-Aktivisten oder Alan Greenspan. Massenmedien stellen die Ungewissheit der Zukunft als Riskanz von Entscheidungen dar. Dabei geraten die Experten als die offiziellen Verwalter der Unsicherheitgegenüber den Medienvertretern zunehmend in die Defensive. Man denke nur an BSE oder Gen- Food.

Wie Nachrichten wirken, bekommt man besser in den Blick, wenn man sich nicht mehr am Paradigma der Informationsverarbeitung sondern an dem der Dienstleistung orientiert. Guter Service heißt nämlich im Kern: man fühlt sich gut bedient. Und ganz entsprechend ist eine Nachrichtensendung dann gut, wenn sich die Zuschauer gut informiert fühlen. Wie überall in der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts heißt es auch hier: Der Kunde ist das Produkt. Und das Produkt einer guten Nachrichtensendung ist eben der Zuschauer, der sich gut informiert fühlt.

Wenn man derart Information konsequent als Ware begreift, wird die Relevanz einer Nachricht (für wen?) irrelevant. Es geht in den Nachrichten also nicht um ein Erklären und Verstehen der Welt. Eher könnte man umgekehrt sagen, dass die Welt zum Kontext für die Nachrichten wird. Faszinierend ist gerade das Ereignis ohne Geschichte – und dann das ganz andere, nächste. Man soll es gar nicht verstehen. „Aufklärung“ ist die Lebenslüge der Journalisten.

Die telegenen Ereignisse ohne Geschichte „ereignen sich“ auf vier wohl unterschiedenen Ebenen. Es gibt, erstens, die genuinen Ereignisse wie das Erdbeben in der Türkei – es hat sich unabhängig von den Medien ereignet. Es gibt, zweitens, mediatisierte Ereignisse wie die Bundestagsdebatte, die wohl auch ohne Medien stattgefunden hätte, aber nun aufgrund der Präsenz der Massenmedien nach deren Regeln abläuft. Da gibt es, drittens, inszenierte Ereignisse wie die Greenpeace-Aktion, die nur für die Medien stattfindet. Und schließlich kann, viertens, die mediale Darstellung selbst zum Ereignis werden, über das dann berichtet wird.

Obwohl derartige Meinungsereignisse zunehmen, sollte man daraus nicht schlussfolgern, dass die Massenmedien ihre Themen selbst erfinden; aber sie setzen Themen durch und bestimmen ihre Karriere. Sie destabilisieren durch Neuigkeiten und restabilisieren durch Rituale der Darstellung. Wie jedes Ritual stabilisiert eine Nachrichtensendung nicht-auflösbare Spannungen und wirkt so als soziales Band. Führt das nun zu einer Einigkeit, die freie Geister für ein Symptom von Gehirnwäsche halten müssten? Wer die Massenmedien als Agenten der Demokratisierung oder als Wächter der Demokratie präsentieren möchte, müsste zeigen können, dass sie uns eine wechselseitige Steigerung von Konsens und Dissens bieten. Im Blick auf Medienereignisse wie die Formierung der weltöffentlichen Meinung in Sachen Irak-Krieg dürfte das schwer fallen. Wer über die amerikanische Politik anders denkt als die überwältigende Mehrheit, von der die Demoskopen in den Medien berichten, zu denken scheint, wird das Fernsehen eher als Konsens-Monster erfahren.

Aber vielleicht irrt man sich ja im Urteil über die Meinungen der Vielen. Seit den Untersuchungen von Latané und Darley diskutiert man diese Möglichkeit unter dem Titel pluralistic ignorance. Wenn sich aber die Mehrheit über die Mehrheit täuscht, muss dem eine Angstdynamik zugrunde liegen, die so alt ist wie die Demokratie. Elisabeth Noelle-Neumann hat ihr Lebenswerk diesem Syndrom gewidmet, und dass ihr präziser Begriff der Schweigespirale nicht zum Grundbegriff der Medienwissenschaften avanciert ist, scheint ihre Theorie zu bestätigen: Die Theorie der Schweigespirale wurde selbst ein Opfer der Schweigespirale.

Die Ausgangsüberlegungen sind wohl unstrittig. Man glaubt, was andere glauben, weil sie es glauben. Und wer zu einem Thema bisher eine andere Meinung hatte, kann sie ohne Gesichtsverlust ändern, wenn und solange er anonym bleibt, also schweigt. Aus Angst vor Isolation beobachtet man ständig die öffentliche Meinung. Und öffentlich heißt eben genau die Meinung, die man ohne Isolationsangst aussprechen kann. Man beobachtet also ständig, wie die anderen die Welt beobachten, und dadurch wird in jedem von uns ein quasi-statistischer Sinn trainiert, mit dem man Beobachtungen zweiter Ordnung anstellen kann: die Meinung der anderen, das Heideggersche Man (sagt…). Doch was Man sagt, ist in Demokratien zumeist der Diskurs artikulierter Minderheiten. Deshalb kann man vermuten – und die theoretischen Schlüsselbegriffe dieser Vermutung heißen eben pluralistic ignorance und Schweigespirale -, dass die öffentliche Meinung nicht der Majorität sondern der Orthodoxie (Political Correctness) zum Ausdruck verhilft.

Das lässt sich nur vor dem Hintergrund der Koevolution von moderner Demokratie und Massenmedien begreifen. Vormodern konnten sich die Menschen fraglos am agraphos nomos, am Gesetz Gottes oder doch wenigstens an dem des Staates orientieren. Diese Traditionswerte zerbrechen an der modernen Kontingenz und werden durch öffentliche Meinung ersetzt. Zugleich ermattet die Orientierungskraft des diskriminierenden und seligierenden Geschmacks; auch er wird in der Massendemokratie durch die öffentliche Meinung ersetzt.

Öffentliche Meinung ist also nicht das, was die Leute meinen, sondern das, was die Leute meinen, was die Leute meinen. Sie funktioniert gleichsam als der generalized other der sozialen Systeme. Wenn man noch stärker abstrahiert, kann man die öffentliche Meinung als ein Medium definieren, das durch lose Koppelung von Bewusstsein entsteht. Die Massenmedien prägen dann Formen in dieses Medium ein, nämlich Themen. Das Dafür- oder Dagegensein ist jedem freigestellt – nicht aber die Anerkennung des Themas als Thema. Mit anderen Worten: Die öffentliche Meinung ist ein Kommunikationssystem, das von der Unterstellung lebt, dass man nicht zugeben kann, von bestimmten Themen keine Ahnung zu haben.

Wer als Individuum auf der politischen Bühne agieren will, wer allein mit der Qualität seiner Waren wirtschaftlichen Erfolg oder mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten „public understanding“ sucht, wird Schiffbruch erleiden. Denn die Öffentlichkeit der modernen Gesellschaft akzeptiert nur suggestiv generalisierte Informationen – also das Image statt des Individuums, die Werbung statt der Warenqualität und den Abstract statt der Wissenschaft. Nur diese radikale Reduktion von Komplexität ermöglicht es den Massenmedien, buchstäblich aufs Ganze zu gehen. Sie konstruieren „den Menschen“, indem sie die Individuen souverän ignorieren. Und sie bieten „das Ganze“ der Welt, indem sie uns durch Neuigkeiten destabilisieren, um uns dann durch Moral zu restabilisieren.

In den Nachrichten erscheint die Welt als von Irritationen bedroht. Die Informationen erregen, und die so freigesetzten Emotionen funktionieren als Unterbrechungsmechanismus. Man denkt nicht mehr an die hohe Arbeitslosigkeitsrate, wenn die Oderdeiche zu brechen drohen. Die Emotionalisierung der Gesellschaft durch erregende Informationen ermöglicht rasche Drehungen des Wertekarussells. Weil wir aber längst auf permanente Irritation eingestellt sind, können wir nicht mehr staunen. Rekorde und Skandale, Katastrophen und Terror bringen uns nicht zum Nachdenken, sondern sie trainieren unsere Angstbereitschaft. Deshalb könnte man sagen: Massenmedien produzieren eine permanente Alarmbereitschaft der Gesellschaft.

Zugleich aber zeigen die Massenmedien unsere Welt als von Moral stabilisiert. Wie in der Antike die Poesie ist heute das Fernsehen nämlich nicht nur Informationsquelle sondern auch moralisches Training. Neuigkeiten beunruhigen, Moral beruhigt. In der fiktiven Realität des Krimis wird der Verbrecher seiner gerechten Strafe zugeführt. In der realen Realität der Öffentlichkeit wird der korrupte Politiker oder Wirtschaftsführer an den Medienpranger gestellt. Die Medien inszenieren den Skandal als demokratischen Schauprozess, den die Zuschauer lustvoll konsumieren.

Hier kann man sehr schön sehen, wie moralische Werte in unserer Gesellschaft funktionieren. Werte machen ja begründungsunbedürftig und unterstellen Konsens; darauf kann keine Gesellschaft verzichten. Heute werden sie aber nicht mehr verkündet – und wer das in Sonntagsreden oder Unternehmensleitbildern doch tut, wirkt rasch peinlich -, sondern indirekt im Skandalkonsum konfirmiert. Nur so, via negativa, besorgen die Massenmedien die soziale Koordination moralischer Perspektiven. Und zur Weltkommunikation passt natürlich nur eine universalistische Moral, die es jedem Zuschauer erlaubt, sich für konkrete Opfer aus aller Welt zu engagieren. Überall wo die Empörung über das Leiden der Welt oder der Protest die Reflexion ersetzt, sind die Massenmedien zur Stelle, und wir können die Sichtbarkeit der Gesellschaft im Ornament der sozialen Bewegungen genießen.

Leute, die sich empören und protestieren, wirken im Fernsehen besonders authentisch. Dieser Eindruck ist aber weniger der Wahrheit ihrer Gefühle als der Logik der Massenmedien geschuldet. Genau so wie die Kopie das Original erzeugt, so erzeugt nämlich die Medienwirklichkeit allererst die Erwartung einer authentischen Realität. Authentizität ist ein Kult der Naivität. Deshalb gehört komplementär zur Hi-Tech-Popkultur der Kult der Straße. Es ist kein Zufall, dass im Zeitalter der Virtual Reality die eigentliche Wirklichkeit, Echtheit und Wahrheit auf der Straße gesucht werden: street credibility. Doch die Straße lockt heute nicht nur als Ort des wirklich Wirklichen, sondern auch des unverfälscht Sozialen. Das gilt für die Gesten des Protests, aber auch für die fröhliche Gegenwelt: Rave. We are family hieß ein Slogan der Technogeneration – die Menschheit als Familie.

Die einfachste Form authentischer Kommunikation lautet für die Raver „Ich will Spaß“ und für die Protestler „Ich habe Angst“ . Spaßgesellschaft und Protestgesellschaft befinden sich also auf demselben Niveau; sie genießen die garantierte Authentizität der Gefühle – niemand kann sie bestreiten. Authentizität ist das Phantom eines Gefühls, das nicht Resultat von „emotion work“ wäre, also das Phantom eines unbearbeiteten Gefühls.

Das authentische Gefühl ist die blaue Blume im Land der Medientechnik; sie strukturiert unsere Gefühlsarbeit durch eine konsequente Unterhaltungsformatierung aller Ereignisse. Alles was geschieht, ordnet sich um die Attraktoren der Sentimentalität und der Sensation. Die Themen des unterhaltsamen Konsums sind deshalb kontextblind und solipsistisch. Es geht hier nicht um kognitive Aufklärung, sondern um kostenlose Gefühle. Gute Unterhaltung ist ein Gefühl; ich fühle mich gut unterhalten, so wie ich mich gut bedient fühle.

Und gute Unterhaltung ist für die moderne Gesellschaft überlebenswichtig. Wir amüsieren uns zu Tode, um uns nicht zu Tode zu langweilen. Sein ist Erregtsein, Lebendigkeit ist Reizbarkeit. Deshalb gilt schon rein neurologisch, dass der Feind des Gehirns die Langeweile ist. Um ordentlich funktionieren zu können, braucht das Nervensystem permanente, aber wohl dosierte Stimulation aus der Umwelt; es operiert zwischen den Grenzwerten von Langeweile und Hysterie.

Gute Unterhaltung liegt nun in der goldenen Mitte zwischen Stress (zu viel Stimulation) und Langeweile (zu wenig Stimulation). In der rundum versicherten Welt der Moderne suchen wir deshalb nach Gefahr, denn diese versetzt uns in Aufregung – und das bereitet Lust. Doch die Gefahr darf nicht wirklich gefährlich werden, sie muss im Als-ob verbleiben. Was wir eigentlich suchen, sind also gefahrlose Gefahren. Und die gibt es vor allem im Film.

Das Begehren nach neuen Erfahrungen, das Aufregung, Abenteuer und Sensation fordert, wird von Kulturanthropologen aus dem hunting pattern, unserer archaischen Erbschaft des Jägerdaseins, abgeleitet. Doch heute ist dieses hunting pattern natürlich eingebettet in eine Kultur des risikolosen Risikos, eine ständige Wiederkehr der Rückversicherung. Im Film wird der Schock als Ware konsumierbar; er bietet das ersehnte Neue in der Form der Sensation, das heißt als Gefahr, die man nicht ernst nehmen muss.

Was für den vormodernen Menschen Fortuna war, ist für den modernen Menschen die Spannung: selbst erzeugte Ungewissheit. Spannung liegt als kontrollierter Kontrollverlust zwischen der Vertrautheit des Banalen und der Unvertrautheit des Komplexen. Ein spannender Film trainiert uns also im Umgang mit Ungewissheit. Fernsehen übt ein, wie man aktive durch passive Kontrolle ersetzen kann: Man kann nichts tun, aber man kann voraussehen, was geschieht.

Im so genannten Infotainment greift diese Logik auch auf die Welt der Nachrichten und Berichte über. Denn die eigentliche Botschaft von Nachrichten ist Allgegenwart, eine Art abstrakter Weltzeitgenossenschaft. Tag für Tag wird der Welthorizont für uns abgetastet und alles Auffällige in bewegten Bildern gezeigt. Gerade auch an der Kultsendung der deutschen Aufklärung, der „Tagesschau“, kann man erkennen, dass Fernsehen ein Ritual ist. Die Zuschauer, die sich zu informieren glauben, genießen den Komfort des Rituals. Man schaltet ein, um abzuschalten. Das Fernsehen neutralisiert die Umwelt, um dann eine Eigenwelt zu konstruieren. Zum Nullmedium (sensu Enzensberger) gehört Action (sensu Goffman). Doch was ist damit gewonnen? Riten ermöglichen die Anpassung an emotionale Problemlagen. Und indem Filme imaginäre Beziehungen vor Augen führen, helfen sie uns, gefühlsmäßig zu managen, womit wir in Wirklichkeit nicht zu Rande kommen.

Ereignisse und Persönlichkeiten sind Eigenwerte des Fernsehens, die das Chaos der Welt wie seltsame Attraktoren ordnen. Das erklärt, warum das Fernsehen so beliebt ist, obwohl alle über das schlechte, niveaulose Programmangebot klagen. Unterm Licht der Kathodenstrahlröhre herrscht das Gesetz der secret consumption. Hier kann ich mir ein Bild von der Welt machen; hier gibt es noch Unmittelbarkeit und Dramatik. Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein. Das Fernsehen nimmt sich des „Menschen“ an, den die Gesellschaft aus sich ausgeschlossen hat. Und gerade weil die sozialen Systeme vom „Menschen“ allenfalls blockiert werden können, wird er als Fernsehpräparat zur evidenten Wirklichkeit. Das ist der praktische Humanismus des Fernsehens. Es leistet konkrete Lebenshilfe bei der Flucht aus der Komplexität.

Die moderne Gesellschaft kann mit dem Menschen nichts anfangen – und noch weniger mit der klassischen Familie. Deshalb findet man überall Angebote, die eine Art Outsourcing des Familiären bieten. Und nirgendwo gelingt das überzeugender als in Formaten wie Lindenstraße und GZSZ. Bei S. Kracauer kann man lesen, dass der Film die ganze Welt als virtuelles Zuhause zeige. Das trifft gerade auf die viel geschmähten Hollywood-Filme zu; und das liegt daran, dass dort in aller Naivität die Mythen, Sagen und Legenden von 2500 Jahren abendländischer Kulturgeschichte daraufhin abgetastet werden, ob sie brauchbare Stories abgeben.

Hollywood ist ein Selektionsmechanismus zur Optimierung von Mythen. Der Bestand ikonischer Konstanz von Mythen bildet sich in Prozessen evolutionärer Selektion heraus. Hollywood arbeitet an den Mythen, die den Horizont unserer Kultur umstellen. Und wir lernen daraus: Der ideale Inhalt von Medien sind Mythen; der Medienverbund inszeniert den Mythenverbund. Er wird von den Jugendlichen nach Modellen der Selbstinszenierung abgesucht. Man könnte geradezu von einer Menschwerdung des Menschen im Kino sprechen

Wenn Mythen erzählt werden, geht es nicht um Information, sondern um Partizipation – aber stets so, dass der Held stellvertretend für mich leidet und triumphiert. Das Supererogatorische wird gerühmt, ist aber nicht verpflichtend. Und Bewunderung ist die Währung, in der wir die Helden bezahlen, die uns entlasten. Diese Entlastungsleistung zeigt sich deutlich in den fundamentalen Reaktionen auf spannende Unterhaltung:

– ich bin nicht allein mit meinem Unglück; – das muss ich mir nicht zumuten;
– damit muss ich nicht rechnen.

Personifikation ist die Schlüsseltechnik, die die Massenmedien vom Mythos übernehmen. Heute müssen sich die Helden aber nicht mehr bewähren, sondern ihren Heroismus nur noch in den Medien posieren. Ist Ballauf vom Kölner „Tatort“ ein Held? Ja, er ist ein moderner Held, denn er sieht aus wie ein moderner Held. Wer im Alltag keinen findet – und das beklagen ja immer wieder die Heroinen der Popmusik -, muss nur ins Kino gehen. In den Filmarchiven lagern die Mythen und Helden als Garanten unserer Moralität.

Der Mythos ist ein begriffsloses Denken und deshalb in der Strukturierung unserer sozialen Realität viel wirkungsvoller als die gut gemeinten Projekte der Aufklärung: die Inszenierbarkeit und Erzählbarkeit des Mythos – statt der Werte und Normen, Theorien und Gesetze. Der Mythos ist eine Kontingenzbewältigung, die nicht erklärt, sondern in Geschichten verstrickt. Und für die Zuschauer, die heute gut unterhalten werden wollen, gilt nichts anderes als damals für die Stammesversammlung am Lagerfeuer. Hier geht es nicht um Kausalität aus Freiheit, sondern um Handlung als enactment eines scripts. Zu Deutsch: die Handlung schafft den Handelnden. Der Schritt vom Mythos zum Hollywoodfilm ist hier ganz klein. Aus Mythos wird plot, aus Praxis wird action.

Markenwerbung und Hollywood produzieren die modernen Mythen, die den Horizont unserer Kultur umstellen. Vorm Fernseher und im Kino haben wir gelernt, was uns keine Schule und kein Elternhaus beibringen konnte: So also geht man mit Frauen um; so funktioniert die Welt; das ist Glück! Hollywood und Madison Avenue, das war und ist die Welt der Stars, die Geburt der großen Gefühle von Ruhm und Ehre – und natürlich der demokratische Mythos des Erfolgs. Was man von Film und Fernsehen derart lernen kann, nennen Anthropologen „behavioral literacy“.

Würden sich Geistesgeschichtler für gute Unterhaltung interessieren, dann könnten sie eine Linie ziehen vom Tod Gottes über den Verlust der heiligen Meistererzählung zur Explosion des Erzählens im 19. Jahrhundert und schließlich zu Hollywood als der Wiederkehr des Mythos unter neuen Medienbedingungen. Der Mythos ist ja ein sprachliches Äquivalent für den verpflichtenden sozialen Ritus. Mythen informieren also nicht, sondern sie solidarisieren. Es geht hier vor allem um das Drama rhythmischen Handelns und emotionale Identifikation.

Wenn Massenmedien Unterhaltung bieten, dann operieren sie nicht mit exakten Informationen, sondern mit Plausibilität und Resonanz. Wer Sinn stiften will, braucht eine gute Geschichte. Sie bietet emotionale Schemata zur Entlastung von der Datenflut. Gefühle fokussieren nämlich Aufmerksamkeit. Und das führt dazu, dass man sich mehr für Schröders Adoptivkind als für die Arbeitslosenstatistik interessiert. Die Welt der Probleme ist nicht die Welt der Gefühle. Ich glaube nicht an Gespenster, aber ich habe Angst vor Gespenstern. Ich glaube nicht an Glücksbringer, aber ich hänge trotzdem ein Hufeisen auf. Und so wird soziales Wissen nicht als Information gespeichert, sondern in Stories.

Filme geben Formulierungshilfe bei der Konstruktion von Geschichten, mit denen sich dann Individuen identifizieren können. Die Ingenieure der Phantasie, die uns Zuschauer mit gut konfektionierten Stories versorgen, bieten vor allem Liebesgeschichten, denn diese schaffen – ähnlich wie auch Gerichtsverfahren und die totale Institution Krankenhaus – eine eigene Welt. Die Liebe schließt ja Geschichte als Weltzeit aus, um sie dann als Eigenzeit zu rekonstruieren; das macht sie für Film und Fernsehen so geeignet.

Wenn wir Gefühle als Kommunikation, also nicht als biologische Entladung, sondern als kulturellen Ausdruck betrachten, dann gehören sie nicht den Individuen, sondern zu ihren Beziehungen. Gefühle entstehen im Reich des Zwischen, und ihr Ausdruck setzt Form voraus. Und weil die geformten Gefühle von der Reaktion der anderen abhängen, geht die Beziehung der Individualität voraus. Gefühle sind Ereignisse in ritualisierten Beziehungsmustern.

Wir lernen Gefühle in den paradigmatischen Szenarien (de Sousa) der Kindheit, die dann durch Geschichten verstärkt werden. Gefühle kann man also üben; das Verhalten wirkt auf das Gefühlsleben zurück. Das heißt aber auch, dass wir unsere Gefühle schauspielern – und umgekehrt von großen Schauspielern große Gefühle lernen können. Zu Recht hat Andy Warhol deshalb diejenigen, die eine große Intensität der Gefühle vermissen, ins Kino geschickt. Gefühle entfalten sich dramenartig, das heißt es gibt kein Gefühl ohne Situation – das ist der ewige Vorteil des Geschichtenerzählers gegenüber dem Psychologen.

Die Geschichten, die die Massenmedien erzählen, handeln zumeist von Skandalen und Katastrophen. Was ist daran reizvoll? Während wir die Katastrophen betrachten, sind wir durch einen Schirm geschützt. Technische Medien schützen ja prinzipiell vor der Direktheit der Sinneswahrnehmung. Hinter diesem Schirm geborgen, wird uns der Schrecken zur Lust. Seriöse Fernsehsendungen liefern uns Gewaltberichte frei Haus – natürlich unter dem Vorwand der Abscheu vor Gewalt. Damit wird aber nicht ein Informationsbedürfnis befriedigt, sondern ein Katastrophenwunsch erfüllt. Und der Bildschirm ist die Wand, an die wir das Unglück der anderen malen.

Die Frage, warum wir uns am Unglück der anderen ergötzen, ist alt. Schon Lukrez bemerkte, es sei süß, des anderen mächtige Not vom Lande zu schauen, weil man eben im Augenblick des Zuschauens vor diesen Leiden und Gefahren sicher sei. Die Götter der alten Welt sind offenbar als Zuschauer des sinnlosen Leidens erfunden worden. Sie haben Spaß an der Grausamkeit des Zufalls, der den Menschen mitspielt. An die Stelle der antiken Götter sind heute die Zeitungsleser und Fernsehzuschauer getreten. Wir betrachten die Katastrophen der Welt als ob wir die unbetroffenen Götter der Antike wären.

Bei Katastrophennachrichten geht es nicht um Information, sondern um den Genuss des Distanzgewinns gegenüber dem Schrecklichen. Man genießt nicht das Leiden der anderen, sondern die eigene Distanz dazu. Und gerade diese lustvolle Unbetroffenheit durch das Leid dort draußen fordert komplementär die „Betroffenheit“ als Attitüde. Betroffenheit ist die Pathosformel der Massenmedien. Die Fernethik der Weltkommunikation dient dazu, weit entferntes Unglück in unsere Nahwelt hineinzukopieren. Die ganze Welt wird so zum Gegenstand des Verantwortungsgefühls. Und dem entspricht dann natürlich kein konkretes Handeln mehr. Je unmöglicher aber ein wirklich eingreifendes Handeln ist, desto lauter das Pathos der Betroffenheit. Diese stereotype Welthaltung von „Wut, Trauer und Betroffenheit“ ist aber nichts anderes als eine moralisch verhüllte Form des Voyeurismus.

Wie funktioniert das sozialpsychologisch? Die amerikanischen Soziologen Campbell und Brickman haben den modernen Wohlfahrtsstaat als hedonic treadmill beschrieben. Das bedeutet im Blick auf unser Thema: die Beschwerdeinhalte ändern sich, die Jammerrate bleibt konstant. Nun muten die Massenmedien den Menschen heute nicht nur Pflichten gegen seinesgleichen, sondern gegen die ganze Menschheit und deren Zukunft zu; damit überlastet man aber das Moralgefühl. Die ganze Welt geht uns nun etwas an. Weltkommunikation erzwingt eine Fernoptik in der Ethik – und das macht unsicher. Daher die Konjunktur des Moralismus.

Das Zeitalter der Massenmedien ist das Zeitalter des Entrüstungspessimismus und der Angstrhetorik. In der Welt der Warner und Mahner wird die Apokalypse zur Ware. Die Bedenkenträger und Betroffenheitsdarsteller sind Moralunternehmer. Als Angststellvertreter kommunizieren sie Betroffenheit über die Betroffenheit anderer. Gehandelt werden dabei empirische Apokalypsen wie Hautkrebs und Wasserkrieg. Wer sie kauft, spart sich die Mühe der Differenzierung. Massenmedien machen also auf dem Markt der Gefühle Geld mit der Angst der anderen: Ozonloch oder AIDS. Angst erweist sich dabei als erfolgreichste Kommunikationsmode, denn die Angstrhetorik ist unwiderlegbar. „Ich habe Angst“ – authentischer geht’s nicht. So erfindet der Humanismus der Massenmedien die Menschheit als Gemeinschaft der Ängstlichen; er stiftet eine Ökumene der apokalyptischen Drohung.

Ich will nun abschließend ein paar Spekulationen darüber anstellen, was das gerade Gesagte für die politische Kommunikation in der modernen Gesellschaft bedeutet.
Es ist zur Selbstverständlichkeit geworden, dass wir in einer Mediendemokratie leben. Doch was soll der Begriff eigentlich besagen? Mediendemokratie heißt, dass sich die politische Öffentlichkeit an den Darstellungsprinzipien der Massenmedien ausrichtet. Politisch wirklich ist nur das, was fotografierbar und erzählbar ist. Für human interest ist aber erst dann gesorgt, wenn alle Probleme personalisiert sind. Schließlich muss man für Aufmerksamkeit und Fortsetzbarkeit sorgen, indem man der Story Konfliktform gibt. Das sind die formalen Bedingungen dafür, dass Politik als gute Unterhaltung verkauft werden kann.

Doch das ist kein Grund zur kulturkritischen Klage. Es geht den Zuschauern nämlich zu Recht nur um die Performance der Kandidaten, weil die Programme der Parteien entweder undeutlich oder ununterscheidbar sind. Und das hat durchaus seine Logik. Sozialpsychologen wissen, dass klare Ziele hinderlich sind beim Sichern von Identität. Viel versprechend sind dagegen Identitäten, die aus Kontrollbemühungen angesichts des Chaos resultieren – man erinnere sich nur an Gerhard Schröder und die Flutkatastrophe. Unglück und Katastrophen bieten nämlich die Gelegenheit, Politik als „Emotional Design“ zu präsentieren, wo es scheinbar nur noch um Menschen geht, nicht um Systeme. Bürokraten, diese Sündenböcke jeder populistischen Politik, können sich dann als Menschen verkaufen und „unbürokratische Hilfe“ versprechen.

In der Mediendemokratie werden politische Probleme nicht durchdacht, sondern gefühlt. Das erreicht man am einfachsten durch die Moralisierung eines Problems. Sie ermöglicht auch denen, die von der Sache nichts verstehen, an der Diskussion teilzunehmen. Moralisierung ist also eine Serviceleistung für Inkompetente. Sie haben es dann mit Menschen und Geschichten, statt nur mit Ideen und Werten zu tun. Die Spin Doctors, die seit Kennedys legendärem Duell mit Nixon das Management der Aufmerksamkeit übernommen haben, wissen das. Sie sind die Wärter im Zoo der politischen Tiere. Stolz zeigen sie den Besuchern die Prachtexemplare; nur das zoon politikon suchen Alteuropäer vergebens.

Mit den Talkshows und TV-Duellen der heißen Wahlkampfphase erreicht die Ästhetisierung der Politik einen Extremwert. Hier machen sich Unterhaltungsmedien und politische Werbeagenturen die sozialpsychologische Erkenntnis zunutze, dass das, was jemand sagt, fast keinen Einfluss auf seine Wirkung hat. Es kommt nur auf das Wie, also auf das impression management an. So entfaltet sich eine Politik ohne Botschaft. Der Wettbewerb der Spitzenpolitiker bietet uns eine angenehm konsumierbare Parodie des Agon und des sokratischen Dialogs, also der gemeinsamen Suche nach dem allgemeinen Besten. Dass es dabei nicht zum Argument und zur Diskussion kommt, wird durch Ritualisierung sichergestellt. Es steht vorher schon fest, wer wann „drankommt“ und auf welche Fragen antwortet.

Das Spitzenprodukt des Mediendarwinismus und damit der Reduktion von politischer Komplexität ist das Fernsehduell zwischen Amtsinhaber und Herausforderer. Nixon gegen Kennedy – das war die Urszene der TV-Duelle. Der psychoanalytische Begriff der Urszene ist hierbei keineswegs zu hoch gegriffen, denn es handelt sich um ein Trauma der politischen Vernunft, das nur deshalb nicht gleich als solches empfunden wurde, weil der den meisten Beobachtern sympathischere Kandidat das Rennen machte. Der Sieg Kennedys markiert den Übergang von der parlamentarischen zur Mediendemokratie. Und es liegt für jeden, der noch einen emphatischen, das heißt klassischen Begriff von Politik hat, eine tiefe Kränkung in der seither unleugbaren Tatsache, dass Politik auf dem Markt der Gefühle verkauft wird – und dass dort sex appeal mehr zählt als Sachkompetenz.

Das Parlament ist für solche Inszenierungen denkbar ungeeignet – wer sieht schon Phoenix? Das politische Design braucht Formate, die weniger störanfällig sind: Hof-Interviews, das Ritual der Elefantenrunde, Talkshows. Wer hier auftritt, ist ein Star. Wie Schauspieler und Sportler sind auch die Politiker der Talkshows und Fernsehdiskussionen „celebrity brands“. Spätestens seit Jürgen Möllemann kennt jeder den Imperativ: Mach dich selbst zur Marke! Es hat deshalb einen guten Sinn, dass das Meinungsforschungsinstitut Emnid nicht nur die Beliebtheit, sondern auch den Bekanntheitsgrad von Politikern veröffentlicht.

Berühmt sind Politiker, von denen bekannt ist, dass sie sehr bekannt sind. Heilige Monster hat Jean Cocteau die celebrities einmal genannt. Wie die griechischen Götter sind auch diese Berühmtheiten nicht anders als wir, aber reicher, beweglicher, mobiler. Und das Fernsehen, der Spiegel oder die Bunte lassen uns am politischen Genießen teilhaben. Alles dreht sich nun nur noch darum, ob die heiligen Monster der Spitzenpolitik „gut rüberkommen“ (Wie war ich, Doris?), oder sich eine Blöße geben (Rudolf „bin Baden“ Scharping). Beides macht Spaß. Menschen interessieren sich eben für Menschen, das heißt für Geschichten – nicht für das politische System und seine Entscheidungssequenzen. Deshalb gestalten die Mediendesigner (auch als Generalsekretäre bekannt) politische Kommunikation heute als Einheit von Nachricht, Werbung und Unterhaltung. Den Bürgern ist das durchaus recht. Im Politainment genießen sie die Intimität mit den Mächtigen und gönnen sich die Illusion der Zukunftsschau.

Je unübersichtlicher und komplexer die Welt wird, desto wichtiger werden Vereinfachungen. Unter modernen Medienbedingungen muss die Politik alle Probleme personalisieren. Die Stars der politischen Bühne ersparen uns dann Investitionen in Kompetenz und Urteilskraft. Hinzu kommen aber auch sachliche Gründe. Genau in dem Maße, in dem wir Komplexität durch Vertrauen reduzieren, muss die Politik personalisiert werden. Deutlicher gesagt: Die Personalisierung der Politik ist der Ausweg aus der Inkompetenz; das Urteil über Personen ersetzt das Urteil über Sachfragen. Möglich wird das durch die Perspektivendifferenz von Handeln und Zuschauen. Das eigene Verhalten rechnet man ganz selbstverständlich den Umständen zu. Die Handlungen anderer dagegen rechnet man den Akteuren zu.

Indem die Mediendemokratie alle Probleme personalisiert, ermöglicht sie dem Publikum die freie Verteilung von Gefühlen und Sympathiewerten. Dabei ist es immer wieder faszinierend zu sehen, wie diese Sympathiewerte völlig losgelöst von Parteipolitik und Programmatik verteilt werden. Gegen die Macht der Unterscheidung Sympathie / Antipathie kommt man mit „Sachfragen“ der Politik nicht an. Und als die CDU 2002 vorgab, eben diese „Sachfragen“ in den Vordergrund des Wahlkampfes rücken zu wollen, handelte es sich natürlich nur um die Werberhetorik derer, die berechtigte Zweifel am Mediencharisma ihres Kandidaten hatten.

Wenn man einmal vom politischen Design absieht, dann muss man zugeben, dass unsere formale Demokratie und die Politik der Mitte keine starken Gefühle des Bürgers ermöglichen. Ihm bleibt ja eigentlich nur der Gang zur Wahlurne – alle vier Jahre. Diese emotionale Unterforderung des Bürgers fordert Kompensationen, zum einen durch affektiv aufgeladene Ein-Punkt-Parteien, zum andern durch das Spektakel im Fernsehen. Das hat längst dazu geführt, dass sich Politik ihre Legitimation durch Popularität verschafft. Diesen fundamentalen Sachverhalt verschleiern Politiker gerne dadurch, dass sie „Populismus“ als Schimpfwort benutzen.

Schon zu Zeiten der Weimarer Republik hatte Carl Schmitt das demokratische Grundproblem erkannt: Repräsentation. Aber es scheint unlösbar. Statt auf Repräsentation setzt die moderne Massendemokratie längst schon auf Legitimation durch Popularität. Und gerade deshalb reagieren Politiker so gereizt auf das Label „Populismus“. Es rührt an das finstere Geheimnis der Massendemokratie: die opportunistische Wertorientierung der Politik.

Doch jeder erfolgreiche Politiker ist heute natürlich Populist. Es geht ihm um das, was amerikanische Marketingexperten mind share nennen: den Kampf um Aufmerksamkeit in den Köpfen der Wähler. Und weil die Wähler vor allem auch Konsumenten sind, muss sich die Politik hier gegen Wirtschaft und Entertainment behaupten. Das tut sie, indem sie „soziale Probleme“ konstruiert, für die sie dann „Lösungen“ (zumeist: Reformen) feilbietet. Das Warenangebot der Parteien besteht also in Meinungen zu diesen selbst definierten Problemen. Regis Debray hat deshalb vom etat séducteur gesprochen. In der Zeit der Aufklärung war der Staat Erzieher; heute ist der Staat Verführer: Hauptkunde der Marktforschung, Warenanbieter auf dem Markt der öffentlichen Meinung und Chef-Designer der globalen Gefühle.