Die Ukraine sitzt auf riesigen Gasreserven

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So titelte die Neue Zürcher Zeitung (nzz) einen Bericht vom 20.10.2020 [1]. In der aktuellen europäischen Energiekrise könnte dieser Sachverhalt starke Bedeutung erlangen. Kurios nur, dass in der Aufstellung der weltweiten Länder mit den größten konventionellen Erdgasressourcen im Jahr 2020 von statista die Ukraine unerwähnt ist. Wurde sie vergessen? „Dass das riesige Land auch über beträchtliche Gasreserven verfügt, ist kaum bekannt,“ aber einen Grund dafür nennt auch die Zeitung nicht.

Betrachtet man die gewaltigen Erdgasreserven im asiatischen Teil Russlands als außereuropäische Lagerstätte, dann verfüge die Ukraine heute über die zweitgrößten bekannten europäischen Erdgasvorkommen. „Ende 2019 enthielten die bis dahin erkundeten ukrainischen Lagerstätten 1,09 Billionen Kubikmeter Erdgas. Dies ist ein Betrag, der innerhalb Europas nur den bekannten norwegischen Ressourcen von 1,53 Billionen Kubikmetern nachsteht,“ wie die nzz berichtete.

Aber auch das ungenutzte Erdgasvorkommen in Deutschland, das an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollte und ebenfalls in der statista-Grafik nicht vorkommt, wurde von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe mit gewinnbaren 1,3 Billionen Kubikmetern angegeben. Die Gewinnung bedarf des unkonventionellen Frackings, das in Deutschland verboten ist.

Bis zum Beginn der Corona-Krise belief sich der durchschnittliche jährliche Gesamtverbrauch der Ukraine auf rund 32 Milliarden Kubikmeter. Von diesem Gesamtjahresbedarf wurden Jahr für Jahr etwa 10 Milliarden Kubikmeter durch Importe gedeckt. Die Gegenüberstellung dieser Volumina mit den oben genannten Zahlen würde die Möglichkeit einer geradezu revolutionären Zukunft für den Energiesektor der Ukraine nahelegen.

Zum Berichtszeitpunkt war der jetzt tobende Krieg in der Ukraine noch undenkbar. Deutschlands 55 prozentige Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen erweist sich als politische Fehlleistung. Die EU und Deutschland suchen nach Wegen, die Quellen und Routen der europäischen Gasversorgung zu diversifizieren. Hierbei könnte nach Kriegsende künftig auch die Ukraine einen Beitrag zur europäischen Gasversorgung erbringen.

Die Ukraine verfügte – vor dem Kriege – über eine der am besten entwickelten und umfassendsten Infrastrukturen zum Gastransport sowohl in Bezug auf ihre Inlandversorgung als auch für ausländische Kundschaft. Das riesige ukrainische Gastransitsystem stellt, so der nzz-Artikel, ein Erbe der sowjetischen Energieexpansion nach Europa und der deutschen Neuen Ostpolitik der 1970er Jahre dar. Was davon allerdings ein Opfer des Krieges geworden ist, wird sich erst später zeigen.

Ein weiterer wichtiger Teil der mehrdimensionalen ukrainischen Gasinfrastruktur sind laut nzz-Bericht die gewaltigen unterirdischen Gasspeicher des Landes. Die gesamten, derzeit nur teilweise genutzten ukrainischen Kapazitäten zur Speicherung von Erdgas belaufen sich auf mehr als 31 Milliarden Kubikmeter. Damit kann die Ukraine fast einen Drittel zu den derzeit rund 100 Milliarden Kubikmetern Speicherplatz hinzufügen, die alle EU-Mitgliedstaaten zusammengenommen haben. In den ersten neun Monaten des Jahres 2020 pumpten internationale Energieunternehmen bereits 7,9 Milliarden Kubikmeter zur Speicherung in die Ukraine. Dies ist ein Umfang, der jetzt schon um ein Vielfaches höher liegt als die Menge ausländischen Gases, die während des gesamten Jahres 2019 in der Ukraine eingelagert wurde.

 

[1] https://www.nzz.ch/meinung/vergessen-gegangen-die-ukraine-sitzt-auf-riesigen-gasreserven-ld.1580844