Analyse des Bundes zur Strom-Versorgungssicherheit: Ein Blendwerk

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Anhand von 15 Indikatoren untersucht das Beratungsunternehmen McKinsey seit 2012 halbjährlich den Status der Zielentwicklung, entlang der drei Dimensionen des energiewirtschaftlichen Dreiecks: Klima- und Umweltschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit. Zuletzt berichteten wir im September 2019 um den Status der Zielentwicklung. Konkret geht es um die Frage, wie realistisch es ist, dass die für 2030 gesteckten Ziele erreicht werden.

Wie die neueste Analyse [1] im Frühjahr 2023 zeigt, gerät die „historisch stabile Stromversorgung in Deutschland unter Spannung: Die verfügbare Leistung zu Spitzenlastzeiten sinkt durch den Plan, aus Kernkraft und aus allen fossilen Energien auszusteigen, von heute 99 GW auf 90 GW im Jahr 2030. Und dies bei insgesamt steigender Spitzenlast, die 2030 auf bis zu 120 GW ansteigt. Damit droht eine Stromlücke von bis zu 30 GW im Jahr 2030 – dies entspricht umgerechnet etwa 30 thermischen Großkraftwerken“.

Selbst der massive Ausbau der wetterabhängigen Windenergie- und Solaranlagen, wenn er überhaupt in dem politisch vorgesehenen Ausmaß erreicht wird, würde allein nicht ausreichen, falls nicht zusätzlich noch neue Gaskraftwerke gebaut und der temporäre Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken erwogen würden.

In der McKinsey-Analyse heißt es unmissverständlich: „Die jüngste Entwicklung der 15 Indikatoren zeigt ein enttäuschendes Bild. Drei Indikatoren haben sich schon jetzt deutlich verschlechtert, nämlich der Haushaltsstrompreis, der Anteil Gesamtenergiekosten Haushalte und die Kosten für Netzeingriffe.“

Die gesicherte Kraftwerksleistung würde abnehmen: „Standen im Jahr 2010 noch 105 GW zur Verfügung, waren es Ende 2022 noch 90 GW. Bleibt es bei den Ausstiegsplänen aus Kohle und Kernkraft, könnten es bis 2025 nur noch 80 GW und bis zum Ende des Jahrzehnts 70 GW sein. Addiert man zusätzlich die Kapazität aus erneuerbaren Energien (EE), die statistisch im Bedarfsfall zur Verfügung steht, beträgt die verfügbare Leistung zu Spitzenlastzeiten 99 GW (2022), 92 GW (2025) und 90 GW (2030) – vorausgesetzt, die hoch ambitionierten Ausbauziele der Bundesregierung für die erneuerbaren Energien werden erreicht.“

Diese Angaben stehen im eklatanten Widerspruch zum Bericht der Bundesnetzagentur mit dem Titel „Versorgungssicherheit Strom“, der am 31. Januar vom Bundeskabinett beschlossen wurde, wie die WELT [2] berichtete.

„Die Stromversorgung ist auch bei früherem Kohleausstieg gesichert.“ Auch der Stromverbrauch von Millionen E-Autos und Wärmepumpen sei eingerechnet. So steht es in dem Bericht der Bundesnetzagentur. Wer die McKinsley-Analyse kennt, fasst sich vor den Kopf.

Die große Kluft zwischen den Befunden sei laut WELT leicht erklärbar: Die von den Behörden beauftragten Analysten des Bundes waren gehalten, Wunschziele der Bundesregierung bereits als Realität vorauszusetzen – das haben sie auch selbst mehrfach betont. So basiere ihre Rechnung auf der Annahme, dass die Verdreifachung des Ausbautempos erneuerbarer, d.h. wetterabhängiger Energien bis 2030 wirklich gelingt. Ebenso wie das 5-Fache der Wärmepumpe-Installationen und das 15-Fache des E-Autobestandes in nur acht Jahren. Selbst der stark hinterher hinkende Netzausbau „erreiche im Bericht der BNetzA auf wundersame Weise seine Ziele“.

„Die Prognose der für Versorgungssicherheit zuständigen Behörde erweise sich damit als logischer Zirkelschluss ohne Aussagekraft“, erklärte der emeritierte Professor Sigismund Kobe vom Institut für Theoretische Physik der TU Dresden gegenüber der Zeitung.

Aussage in der McKinsley-Analyse zur Schließung der Stromlücke:

  • „2022 lag die höchste importierte Leistung bei 12 GW. Da auch die Nachbarländer steigende Strombedarfsspitzen haben, nehmen wir an, dass in Zukunft nur Importe in einer Größenordnung von etwa 10 GW zur Verfügung stehen. Die verbleibende Lücke in Deutschland könnte dadurch von 30 auf 20 GW reduziert werden.“
  • „Für die kurzfristige Überbrückung von Engpässen eignen sich Batteriespeicher: Laut Netzentwicklungsplan könnten bis 2030 in einem mittleren Szenario Energiespeicher mit einer kumulierten Leistung von 10 GW installiert sein – davon 8 GW in dezentralen PV-Batteriespeichersystemen und 2 GW in Großbatteriespeichern.“ Dazu sind die erheblichen Kosten  der Batteriespeicher und deren erhebliche Bedarf an Lithium anzumerken.
  • „Bis 2025 können höchstens die bereits geplanten und im Bau befindlichen 3 GW zur Verfügung stehen. Und angesichts der langen Planungs-, Genehmigungs- und Bauzeiten ist es mehr als fraglich, ob bis 2030 weitere 18 GW neue Kapazitäten bereitgestellt werden können. Die dazu nötigen Investitionen sind zudem mit Unsicherheiten verbunden, weil unklar ist, wie lange die Gaskraftwerke laufen und wie – wenn auf Wasserstoff umgestellt werden soll – günstiger Wasserstoff beschafft werden kann.“ Aufgrund dieser Unsicherheit blieben weitere Gaskraftwerke über die angenommenen 3 GW hinaus in dem berechneten Potenzial unberücksichtigt. Die 2030er-Lücke für Deutschland beträgt damit immer noch 10 GW.

Von den vier aufgeführten Indikatoren, deren Zielerreichung unrealistisch ist, sind zwei hervorzuheben:

Die Kosten für Netzeingriffe sind von zuletzt 9,6 € pro MWh auf 27 € pro MWh geklettert. Grund dafür sind die erheblich gestiegenen Kosten für Redispatch-Maßnahmen infolge der Energiepreissteigerung: Sie erhöhten sich um den Faktor 17 – von 55 Mio. € im dritten Quartal 2021 auf 930 Mio. € im ersten Quartal 2022. Der Zielerreichungsgrad fällt damit von 50% auf 0%.

Beim Ausbau Transportnetze gab es kaum Fortschritte. Zwar wurden in den vergangenen beiden Quartalen rund 290 km fertiggestellt; die Gesamtlänge beträgt jetzt 2.292 km. Allerdings bleibt der Ausbau weiter deutlich hinter der Zielmarke von 5.553 km und dem angestrebten Ausbaufortschritt von knapp 550 km pro Halbjahr zurück. Die Zielerreichung des Indikators beträgt 38%. Dieser Netzausbau ist erforderlich, um den im Norden Deutschlands erzeugten Ökostrom in die südlichen Bundesländer zu transportieren.

Fazit

Sicherheitsanalysen haben zum Ziel, Schwachstellen eines Systems aufzudecken. Dazu gehören in erster Linie worst-case-Betrachtungen, in denen das Versagen wesentlicher Komponenten des Systems untersucht wird und Gegenmaßnahmen zur Vermeidung deren Versagens getroffen werden. Dies gilt ganz besonders auch für die Analyse der Stromversorgungssicherheit, von der die Wirtschaft des Landes und ganz allgemein das Leben der Bevölkerung existenziell abhängt. Was die Bundesnetzagentur, allerdings unter Vorgabe des Bundeswirtschaftsministeriums, präsentierte, ist Blendwerk, um allen, die das Vorgehen nicht so ohne weiteres durchschauen, noch zusätzlich Sand in die Augen zu streuen. Wiedermal blieb die politische Glaubwürdigkeit auf der Strecke.

 

[1] https://www.mckinsey.de/branchen/chemie-energie-rohstoffe/energiewende-index

[2] Welt am Sonntag, Nr. 10, 5.März 2023, „Gefährliches Spiel“, in der Rubrik ‚Wirtschaft und Forum’ von Daniel Wetzel