Bundesverfassungsgericht zur 16. Atomgesetz-Novelle

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Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (1) erläutern den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29.9.2020 zum Inkrafttreten der 16. Atomgesetz-Novelle:

“Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 29. September 2020 entschieden, dass der Gesetzgeber seiner Pflicht zur Beseitigung von Grundrechtsverletzungen, die im sogenannten Atomausstiegsurteil von 2016 festgestellt worden waren, nicht nachgekommen ist. Im Urteil von 2016 hatte das Gericht dem Gesetzgeber vorgegeben, die Verletzung der Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG) einzelner Kernkraftwerkbetreiber durch Schaffung einer Kompensationsregelung auszuräumen. Zur Umsetzung des Urteils wurde 2018 die 16. Atomgesetz-Novelle beschlossen. Im aktuellen Beschluss kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass die Novelle aufgrund formeller Fehler nicht in Kraft getreten ist und auch im Falle des Inkrafttretens materiell unzureichend wäre.

Hintergrund der beiden Entscheidungen ist der Ausstieg Deutschlands aus der Nutzung der Kernenergie. Ab dem Jahr 1998 fanden dazu Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und den Betreibern der deutschen Kernkraftwerke statt. Dabei wurde für jede einzelne Anlage eine Strommenge festgelegt, die diese ab dem 1. Januar 2000 maximal noch produzieren durfte (sogenannte Reststrommenge). Mit diesen Stromerzeugungskontingenten sollten die Betreiber in der Regel ihre Investitionen amortisieren und einen angemessenen Gewinn erzielen können. Ende 2010 wies der Gesetzgeber den Betreibern Zusatzstrommengen zu, woraus sich mittelbar eine Laufzeitver- längerung ergab. Wenige Monate später kam es in Reaktion auf die Havarie von Fukushima im März 2011 zu einer politischen Kehrtwende. Auf das sogenannte Atom-Moratorium, bei dem die deutschen Kernkraftwerke überprüft und einzelne Kraftwerke stillgelegt wurden, folgte im Juni desselben Jahres die 13. Atomgesetz-Novelle, mit der die Zusatzstrommengen zurückgenommen und zudem feste Abschalttermine für einzelne Kernkraftwerke beschlossen wurden. Mit dem Atomausstiegsurteil von 2016 wurde die Novelle durch das Bundesverfassungsgericht für teilweise verfassungswidrig erklärt. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass zwar keine Enteignung der Kraftwerkbetreiber nach Art. 14 Abs. 3 GG vorliege, die Betreiber jedoch zum Teil unzumutbar in ihrem Eigentum beschränkt würden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebiete in zwei Fällen Ausgleichsregelungen für betroffene Kraftwerkbetreiber: erstens für diejenigen Betreiber, die die ihnen zugewiesenen Reststrommengen aufgrund der gesetzlich festgelegten Restlaufzeiten ihrer Kraftwerke nicht vollständig konzernintern ausnutzen könnten. Zweitens müsse ein Ausgleich für jene Investitionen erfolgen, die im Hinblick auf die 2010 zugewiesenen Zusatzstrommengen getätigt wurden. Das Gericht erteilte dem Gesetzgeber den Auftrag, die festgestellten Grundrechts- verletzungen bis zum 30. Juni 2018 zu beseitigen.

Die 16. Atomgesetz-Novelle von 2018 sah einen Ausgleich der nicht nutzbaren Reststrommengen vorrangig durch die Möglichkeit konzernübergreifender Weitergabe an Wettbewerber vor. Nur im Falle des Scheiterns ernsthafter Bemühungen zur Vermarktung der Reststrommengen zu angemessenen Bedingungen (sogenannte Bemühensobliegenheit) sollte ein Anspruch auf staatliche Ausgleichsleistungen bestehen. Der staatliche Ausgleich sollte erst im Jahr 2023 beantragt werden können und vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) festgesetzt werden. Das Gesetz sollte an dem Tag in Kraft treten, an dem die Europäische Kommission die beihilferechtliche Genehmigung für die Ausgleichsregelung (Art. 108 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) erteile oder verbindlich mitteile, dass eine solche Genehmigung nicht erforderlich sei. Nachdem die Europäische Kommission am 4. Juli 2018 mit- geteilt hatte, dass ihrer Ansicht nach keine beihilferechtliche Genehmigung erforderlich sei, wurde dieser Tag als Datum des Inkrafttretens im Bundesgesetzblatt bekanntgegeben.

Mit dem aktuellen Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass das Inkrafttreten der 16. Atomgesetz-Novelle tatsächlich nicht erfolgt sei. Es sei zwar grundsätzlich zulässig, das Inkrafttreten eines Gesetzes an die Bedingung zu knüpfen, dass die Europäische Kommission bestimmte beihilferechtliche Maßnahmen treffe. Die Bedingung für das Inkrafttreten der 16. Atomgesetz-Novelle sei indes nicht eingetreten. Eine verbindliche Mitteilung der Kommission darüber, dass eine beihilferechtliche Genehmigung nicht erforderlich sei, sei im Unionsrecht unbekannt. Die erfolgte Mitteilung sei nach ausdrücklicher Äußerung der Kommission rechtlich unverbindlich. Diese Ansicht habe das Gericht der Europäischen Union in einem Verfahren, das ein Kraftwerkbetreiber aufgrund der Mitteilung gegen die Europäische Kommission geführt habe, bestätigt. Eine Deutung der unionsrechtlich unverbindlichen Mitteilung als verbindliche Mitteilung im Sinne der 16. Atomgesetz-Novelle sei aufgrund der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anforderungen an die Bestimmtheit einer gesetzlichen Regelung nicht möglich. Zwar sei nicht auszuschließen, dass auch informelle Einschätzungen gewisse Vertrauenstatbestände schafften, dies mache sie jedoch nicht zu verbindlichen Handlungen.

Auch materiell sei die 16. Atomgesetz-Novelle unzureichend. Die Bedingung, den staatlichen finanziellen Ausgleich von einer Bemühensobliegenheit abhängig zu machen, sei im Grundsatz nicht zu beanstanden, in der konkreten Ausgestaltung aber unzumutbar. Mangels hinreichender Klarheit der Regelung könnten die Kraftwerkbetreiber nicht wissen, wie weit ihre Bemühungen zur Weitergabe ihrer Reststrommengen reichen müssten. Es existiere kein Verfahren, mit dem die Betreiber rechtzeitig Gewissheit darüber erlangen könnten. Den Betreibern werde dadurch aufgebürdet, entweder potentiell unangemessene Konditionen zu akzeptieren oder zu riskieren, wegen unzu- reichender Bemühungen kompensationslos auszugehen. Unzumutbar sei auch eine Regelung, aufgrund derer es bei einem bestimmten Kraftwerkbetreiber zu einer doppelten Kürzung des Ausgleichsanspruchs kommen könne. Wegen dieser verfassungswidrigen Regelungen genüge es nicht, das Gesetz unverändert in Kraft treten zu lassen.

Der Gesetzgeber bleibt somit weiterhin verpflichtet, mit einer Neuregelung die im Atomausstiegsurteil von 2016 festgestellten Grundrechtsverletzungen zu heilen. Das Bundesverfassungsgericht hat bestimmt, dass die Neuregelung „alsbald“ erfolgen müsse.”

Quellen und Literatur:

  • –  Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. September 2020 (Az. 1 BvR 1550/19).
  • –  Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2016 (Az. 1 BvR 2821/11).
  • –  Ludwigs, Vermeidbar und vorhersagbar, Verfassungsblog.de vom 22. November 2020.
  • (1) Wissenschaftliche Dienste Nr.15/20, 30. November 2020

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