Cicero deckte auf. Wie BMWK und BMUV bei der KKW-Abschaltung täuschten.

Am 25.4.2024 enthüllte das Cicero-Magazin, wie Habecks Spitzenbeamte Fachurteile zum Atom-Aus umgeschrieben hatten. Von einem möglichen Fehlverhalten seiner Mitarbeiter will aber der Minister nichts wissen. Ulrich Waas*)schrieb dazu den folgenden Gastbeitrag für die Berliner-Zeitung:

Das Thema „Redlichkeit und Transparenz beim Ausstieg aus der Kernenergie“ wird derzeit wieder heftig diskutiert. Lange hatte das Habeck-Ministerium die vom Cicero-Magazin nach dem Informationsfreiheitsgesetz beantragte Aktenherausgabe verweigert. Nach Klage war diese gerichtlich angeordnet worden. Damit wurden Details aus dem Entscheidungsablauf belegbar, die ein manipulatives Vorgehen nahelegen.

Außerdem führte der erste Jahrestag der Abschaltung der letzten Kernkraftwerke Mitte April zu Wortmeldungen vonseiten der KKW-Gegner. Offensichtlich gibt es dort das Gefühl, sich weiterhin für die problematische Entscheidung der Abschaltung rechtfertigen zu müssen.

 Folgen des Atomausstiegs: Was Habeck verschweigt und was er verdreht 

Besonders Umweltministerin Steffi Lemke und Wirtschaftsminister Robert Habeck erzählten, wie glatt alles bei der Energiewende auch ohne KKW laufe und wie in den nächsten Jahren noch alles viel schöner werde. Politikern und Experten, die das anders sehen, wird Mythenbildung unterstellt.

Wer sich allerdings mit dem Thema länger und offen befasst hat, stolpert über lauter Halbwahrheiten in der Argumentation der Grünen:

  • Habeck behauptet in einer Videobotschaft: Die CO₂-Emissionen seien um 20 Prozent heruntergegangen. Er verschweigt, dass der Rückgang erheblich damit zusammenhängt, dass die Stromimporte deutlich zugenommen haben und die Produktion der energieintensiven Industrie heruntergefahren wurde, unter anderem, weil die Konkurrenzfähigkeit durch hohe Energiepreise litt. Normalerweise streitet Habeck aber ab, dass eine solche „Deindustrialisierung“ Teil der Energiewende sein soll. Was gilt nun?
  • Der Minister bleibt dabei nicht stehen: Die Großhandelsstrompreise seien wieder um 40 Prozent gesunken und zeitverzögert käme das auch bei den Verbrauchern an, sagt er. Er verschweigt, dass die Verbraucherstrompreise (Haushalte) nur zu knapp der Hälfte von den Großhandelsstrompreisen bestimmt werden, der andere Teil von Netzentgelten, Steuern, Abgaben und Umlagen. Die sind in Summe aber angestiegen. Um das nicht so auffallen zu lassen, wurde die EEG-Umlage aus den Stromrechnungen herausgenommen und wird jetzt aus dem Bundeshaushalt – also von Steuern – bezahlt, das heißt indirekt doch wieder vom Verbraucher. Außerdem haben einige Übertragungsnetzbetreiber für dieses Jahr eine Erhöhung der Netzentgelte angekündigt. Ein Strompreisrückgang auf das Niveau vor 2022 ist deshalb für Haushalte auf lange Zeit nicht absehbar.

Man wusste: KKW hätten CO₂-Emissionen und Strompreise senken können 

Die tatsächliche Lage ist eben doch nicht so schön, wie der Minister mit seinen Halbwahrheiten glauben machen will. Es greift auch viel zu kurz, die Diskussion auf Sorgen um Stromerzeugungsengpässe im Winter 2022/23 zu beschränken – wie das Habeck und Lemke jetzt versuchen, um sagen zu können, es sei doch alles gut gegangen. Diese Ausführungen sind Nebelkerzen, um von den wesentlichen und eigentlich drängenden Fragen abzulenken.

Erstens: Bereits im März 2022 war klar, dass Gas als „Brückentechnologie“ für die Energiewende nicht mehr funktionieren würde. Wenn damals entschieden worden wäre, die sechs damals noch betriebsfähigen KKW weiter zu nutzen – welche Auswirkungen hätte das auf die CO₂-Emissionen und die Strompreise gehabt?

Die Antworten sind einfach:

  • Mit Kohle wurden 2023 rund 118 Milliarden Kilowattstunden (kWh) produziert. Mit dem Weiterbetrieb der sechs KKW hätten davon mehr als 50 Milliarden kWh von den KKW übernommen werden können, entsprechend einer Verringerung der CO₂-Emissionen um mehr als 50 Millionen Tonnen. (Nur um ein Gefühl für die Menge zu vermitteln: Diese CO₂-Einsparung wäre gut das Zehnfache der Wirkung eines Tempolimits von 120 km/h gewesen.)
  • Die sechs KKW hätten in dem Zeitraum Strom zu Kosten von 2 bis 3 Cent/kWh produzieren können. Ähnlich niedrige Produktionskosten gab es nur bei Wasserkraftwerken, die aber ohnehin voll genutzt wurden. Alle anderen Stromerzeuger hatten höhere Produktionskosten, Braunkohle etwas teurer, Gas 2023 am teuersten (etwa Faktor 10). Somit ist klar, dass der Weiterbetrieb der KKW die Kosten der Stromerzeugung um Milliarden Euro verringert hätte.

Diese Aspekte waren im März 2022 auch den energiewirtschaftlichen Fachleuten im Habeck-Ministerium bekannt. Die entsprechenden Meinungen wurden aber aus dem gemeinsamen „Prüfvermerk“ des Bundeswirtschafts- und des Umweltministeriums, mit dem die Abschaltung politisch begründet werden sollte, sorgfältig herausgehalten. Das Bundesumweltministerium (BMUV) steuerte dann noch wider besseres Wissen Argumente bei, die einen Weiterbetrieb über das Ende von 2022 hinaus als technisch und sicherheitstechnisch problematisch erscheinen lassen sollten.

Die Unhaltbarkeit wesentlicher Behauptungen, die das BMUV zum Prüfvermerk beigesteuert hatte, wurde hier schon im Sommer 2022 aufgezeigt. Einiges zu den Vorgängen beim Abblocken unerwünschter Fachmeinungen wurde jetzt durch die Recherchen des Cicero-Magazins bekannter.

Bundesrechnungshof: Energiewende wird zum Milliardenloch 

Doch es geht hier, zweitens, nicht nur um den Winter 2022/3. Die entscheidende Frage, die auch jetzt zu wenig diskutiert wird: Wie lange wird es noch dauern, bis ein grundlegend geändertes Energiesystem in ausreichendem Umfang aufgebaut ist, in dem weder fossile Kraftwerke noch KKW benötigt werden? Und wie werden sich dabei die Strompreise entwickeln?

Für die Antworten muss man sich klarmachen, welche Probleme auf dem Weg zur Klimaneutralität sich vor uns auftürmen:

  • Zentrales Problem für den weiteren Ausbau von Wind- und Sonnenstrom ist die fehlende Speicherkapazität, die es für diese volatilen Energieformen braucht, um in günstigen Stunden erzeugte elektrische Energie für ungünstige Stunden zu speichern. Natürlich gibt es Pumpspeicher und Batteriespeicher. Benötigt würde für das Ziel „80-100 Prozent regenerativ“ aber eine Kapazität, die um ein bis zwei Größenordnungen größer wäre. Ein entsprechender Ausbau wäre nach gegenwärtigem Stand mit dreistelligen Milliardenbeträgen verbunden.
  • Bereits jetzt müssen immer öfter Wind- und Solaranlagen wegen fehlender Speicher abgeschaltet werden, weil in günstigen Stunden die Stromproduktion größer als die Nachfrage ist und man den Überschuss-Strom selbst zu Dumpingpreisen nicht mehr im Ausland loswird. Mit dem von Habeck propagierten beschleunigten Ausbau von Wind- und Solaranlagen wird dieses Problem noch beschleunigt wachsen. Damit wird offensichtlich die Wirtschaftlichkeit dieser Anlagen zunehmend verschlechtert.
  • Das Problem kann etwas verringert werden, wenn die Kapazitäten im Übertragungsnetz größer wären und damit mehr überregionaler Ausgleich möglich wäre. Aber der Ausbau verläuft ausgesprochen zäh, wie ein Diagramm des Bundesrechnungshofs klar zeigt. Weiterhin müssen auch die Verteilungsnetze umgebaut werden, um bei vielen kleinen, dezentralen Stromerzeugern elektrische Energie in wechselnde Richtungen transportieren, steuern und messen zu können. Für diese Aus- und Umbauten sind ebenfalls höhere dreistellige Milliardenbeträge zu veranschlagen.
  • Um bei den unvermeidbaren „Dunkelflauten“ mit sehr geringen Leistungen aus Wind- und Solaranlagen nicht auf Kohlekraftwerke zurückgreifen zu müssen und wegen der unzureichenden Speicherkapazität nicht im „Dunkeln zu sitzen“, wird vom Habeck-Ministerium der Neubau von Gaskraftwerken vorgesehen. Solche Kraftwerke für wenige Hundert Stunden Betriebszeit im Jahr zu bauen, ist erst einmal unwirtschaftlich. Investoren haben sich deshalb bisher nicht gemeldet. Gefordert wird vielmehr, dass der Staat diese Kraftwerke finanzieren soll. Dabei würde es auch um einen zweistelligen Milliarden-Betrag gehen.
  • Mit Blick auf die Klimaneutralität soll eine neue Kraftwerksvariante entwickelt oder eingesetzt werden, die anfangs mit Erdgas befeuert und später auf Wasserstoff umgestellt werden kann. Um den Wasserstoff dafür bereitzustellen, braucht es eine Wasserstoff-Wirtschaft, die bisher nur in Anfängen vorhanden ist. Das erfordert wiederum viele Milliarden von staatlicher Seite, da viel davon zunächst einmal nicht wirtschaftlich ist. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass die Umwandlungen „Strom-Wasserstoff-Strom aus Gaskraftwerken“ den Wirkungsgrad etwa um den Faktor drei senkt und die Kosten entsprechend erhöht.
  • Dazu kommt noch die Umstellung anderer Bereiche außerhalb der Stromversorgung auf Technologien ohne CO₂-Emissionen, wie Elektromobilität im Verkehr, Wärmepumpen im Heizungsbereich, Wasserstoff in Chemie, Stahl- oder Zementherstellung. Dies wird zum einen den Bedarf an elektrischer Energie erheblich in die Höhe treiben, der dann durch die Stromversorgung zusätzlich zu decken wäre – und der zum anderen ohne Unterstützung durch erhebliche staatliche Subventionen nicht vorankommen wird.

Zur Bewertung dieser Probleme sollte man noch sehen, dass es auf dem Weg zur Klimaneutralität zwar Beschreibungen der gewünschten Ziele gibt, aber zur Umsetzung der Maßnahmen bisher nur wenig konkrete Aufträge und geklärte Finanzierungen. Dabei liegt hier für die Geschwindigkeit des Umbaus eine besondere Schwierigkeit: Nach einer systematischen Untersuchung wären für das Erreichen der Wunschziele bis Ende 2030 Investitionen von insgesamt etwa zwei Billionen Euro erforderlich, das heißt pro Jahr im Durchschnitt 250 Milliarden Euro. Davon wäre etwa die Hälfte durch den Staat zu stemmen.

Kann man sich nach den Diskussionen über den Bundeshaushalt vorstellen, dass dort jährlich deutlich mehr als 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Energiewende abgezweigt werden können – und zwar ohne wesentliche Einschnitte an anderer Stelle, wie der Bundeskanzler immer wieder glauben machen will? Damit zurück zu der Frage: Wie lange wird ein solcher Umbau unserer Infrastruktur und Elektrizitätsversorgung realistischerweise dauern? Und was bedeutet das für die CO₂-Emissionen und die Strompreise?

Diese Fragen waren auch schon im November 2022 in einer Sachverständigenanhörung im Bundestagsumweltausschuss thematisiert worden, in der die Vertreter von Grünen und SPD sich aber nicht auf eine Diskussion einlassen wollten. Da herrschte die Devise „Augen zu und durch“.

Dass die Redlichkeit in der Diskussion dieser Fragen inzwischen nicht zugenommen hat, zeigte kürzlich die Reaktion von Robert Habeck auf die detaillierte Kritik des Bundesrechnungshofs zur bisherigen Umsetzung der Energiewende: Die Kritik wurde von Habeck ohne nennenswerte inhaltliche Argumentation als „nicht nachvollziehbar“ abgetan.

Prüfung der Laufzeitverlängerung: Offene Diskussion abgewürgt 

Im März 2022 hatte Robert Habeck geäußert, dass die Möglichkeiten der Energiepolitik nach dem russischen Angriff auf die Ukraine „ohne Tabus“ analysiert werden sollten. Tatsächlich haben jedoch Bundeswirtschafts- und Bundesumweltministerium in einem kurzfristig produzierten „Prüfvermerk“ versucht, gegen Stellungnahmen eigener Fachabteilungen eine tabufreie Diskussion zur weiteren Nutzung der betriebsfähigen KKW abzuwürgen. Schriftführend waren dabei wohl ein Staatssekretär aus dem Bundeswirtschaftsministerium und ein Abteilungsleiter des BMUV, die für die weitere Nutzung sprechende Gründe abgeblockt und zum Teil wider besseres Wissen Gegengründe fingiert haben. 

Mit Blick auf den Zeitbedarf für die Energiewende – die Rede ist von mindestens 20 Jahren – wurde damit die Möglichkeit verworfen, durch den Weiterbetrieb von sechs KKW, die im März 2022 noch betriebsfähig waren, in diesem Zeitraum viele Milliarden Euro bei den Stromerzeugungskosten sowie einige Hundert Millionen Tonnen bei den CO₂-Emissionen einzusparen.

Der Weiterbetrieb hätte natürlich die Probleme der Energiewende nicht allein lösen können, aber er hätte nennenswert entlasten können, was angesichts der gewaltigen Aufgaben schon eine Hilfe gewesen wäre. Sarkastisch könnte man sagen: Dieser Vorteil für die Volkswirtschaft durfte nicht sein, weil sonst Jürgen Trittin den Termin für seine Ausstiegsparty um einige Jahre hätte verschieben müssen.

Sinkende Kosten je kWh? Die Wähler werden weiter in die Irre geführt 

Statt in Kenntnis der Haushaltsprobleme in den kommenden Jahren wenigstens jetzt eine offene, redliche Diskussion anzustreben, was bis wann machbar ist, werden weiter die Wähler mit Halbwahrheiten in die Irre geführt. Zum Beispiel wird beruhigend behauptet, mit dem beschleunigten Ausbau von Wind- und Solaranlagen würden die Kosten je kWh weiter sinken.

Aber das ist eine „Milchmädchenrechnung“. Denn verschwiegen wird dabei, dass auch der Umbau der Energienutzung und Energieversorgung bezahlt werden muss. Und dass deshalb für den Verbraucher die Strompreise nicht sinken, sondern eher wieder steigen werden – wenn die Kosten nicht in irgendwelchen Sondervermögen versteckt werden.

Zwar schicken – wie gerne gesagt – „Wind und Sonne keine Rechnung“ (wie übrigens auch Kohleflöze oder Uranerzlager nicht), aber sehr wohl diejenigen, die das liefern, was zur Nutzung auch gebraucht wird. Es ist also leider zu befürchten, dass durch die fehlende Redlichkeit in der Argumentation die Kosten und Probleme der Energiewende unnötig vergrößert werden.

*) Zum Autor: Nach dem Physik-Diplom 1975 ging Ulrich Waas zur KKW-Sparte der Kraftwerk Union AG (KWU), damals gemeinsames Tochterunternehmen von Siemens und AEG. Nach Tätigkeiten in verschiedenen Fachabteilungen war er von 1992 bis zur Pensionierung 2012 Leiter der Abteilung, die beim KKW-Erbauer unter anderem für einen wesentlichen Teil der Periodischen 

Sicherheitsüberprüfung zuständig war. Anfang 2005 wurde Waas zum Einbringen seiner Fachkenntnisse in Sicherheitsfragen bei KKW vom Bundesumweltministerium in einen Ausschuss der Reaktor-Sicherheitskommission berufen, von Anfang 2010 bis Ende 2021 in die RSK selbst.